Von Sören S. Sgries
Eberbach. Dass Andreas Wiese so zärtlich von seinen Tieren erzählen würde – man hätte es eher nicht erwartet. Fast 90 Minuten hat der 62-Jährige über "sein" Rotwild und die Jagd gesprochen. Fachlich präzise. Ausführlich. Und vor allem ziemlich nüchtern. Doch jetzt, das Gespräch geht dem Ende zu, er soll über seine Erlebnisse im Wald berichten, bricht es aus ihm heraus. "Das Sozialverhalten ist unglaublich, die Beziehung zwischen Mutter und Kind echt faszinierend", gerät er überraschend ins Schwärmen. Wie die Hirschkuh das Kalb umsorge: "Das zu erleben, ist viel spannender als Schwarzwild oder Rehwild." Die Augen des Eberbachers leuchten.
Andreas Wiese, Vorsitzender der Odenwälder Rotwild-Jäger. Foto: SgriesTatsächlich ist es ein sehr exklusives Erlebnis, das der Vorsitzende der "Vereinigung der Rotwildjäger im Odenwald" da beschreibt. Rotwild begegnet man in Baden-Württemberg vor allem im Wildpark. In Schwarzach. In Bad Mergentheim. In freier Wildbahn eher nicht – und das nicht nur, weil die imposanten Tiere dem Menschen aus dem Weg gehen. Sondern weil ihr Lebensraum künstlich beschränkt wird.
Im Südwesten residiert der "König der Wälder", bildlich gesprochen, nicht im weitläufigen Schloss. Sondern in der Drei-Zimmer-Wohnung.
Nur vier Prozent der Landesfläche sind als Rotwildgebiete deklariert. Seit 1958 gibt es diese Beschränkung auf vier isolierte Bereiche. Nicht umzäunt, aber doch streng überwacht. Rotwild, das sich außerhalb dieser Bereiche aufhält, muss – so regelt es das Jagdrecht – erlegt werden.
Nur "Kronenhirsche", also erfahrene männliche Tiere, werden geschont. Für sie gibt es die Abschussgenehmigung nur ausnahmsweise, "wenn dies zur Verhinderung übermäßigen Wildschadens erforderlich ist". Die Folge: Der Bestand – schätzungsweise 6000 bis 7000 Tiere – konzentriert sich tatsächlich auf diese rund 170.000 Hektar.
Gut so? Nein, meint eine Initiative von Landesjagdverband und Deutscher Wildtier Stiftung. "Während sich Großraubwild ungehindert ausbreiten darf, wird Rotwild scharf bejagt und eingepfercht", so der Vorwurf. Eifrig wirbt man dafür, dass sich das ändert – zuletzt mit einer "geröhrten Petition", die vor einer Woche an Landes-Forstminister Peter Hauk (CDU) übergeben wurde. Auch Jäger Wiese wünscht sich mehr Platz für den Hirsch. "Beim Wolf tue ich alles, damit er sich wohlfühlt", sagt er. "Genau so beim Luchs." Wenn man aber einer Wildart das zugestehe – warum nicht auch anderen?
Über 30.000 Tierfreunde hatten die Petition unterschrieben. Na klar: Wer einmal das beeindruckende Schauspiel der Brunft, mit laut röhrenden, dann kämpfenden Hirschen beobachtet hat – und sei es nur in einer TV-Dokumentation – der kann schon mal ins Träumen geraten. So ein Erlebnis im Wald nebenan – das wär doch was.
Und es gibt ein wissenschaftliches Argument, das die "Freiheitskämpfer" für das Rotwild anführen: die Genetik. Inzucht gefährde die Bestände, wenn kein Austausch zwischen den Gebieten ermöglicht werde, so die Befürchtung.
Belege für diese These liefert eine Studie der Gießener Veterinärmediziner Prof. Gerald Reiner und Prof. Hermann Willems. In Hessen – hier gibt es 20 getrennte Rotwildgebiete, darunter auch das nach Baden-Württemberg und Bayern übergreifende Gebiet Odenwald – sammelten sie innerhalb einer Saison rund 1300 Gewebeproben. Ein Ergebnis der Gen-Analyse: Im Gebiet Odenwald sehen sie bei 10 Prozent der Tiere einen "hohen Inzuchtgrad". Das heißt: Jederzeit könnte ein Kalb mit einem Inzucht-bedingten genetischen Defekt zur Welt kommen.
So wie 2018 im Gebiet Wattenberg-Weidelsburg, wo ein Tier mit verkürztem Unterkiefer geschossen wurde. Zudem stellten Reimer/Willems fest: "Der Odenwald hat praktisch nichts mehr mit dem durchschnittlichen hessischen Rotwild gemein". Nur eine 13-prozentige genetische Übereinstimmung stellten sie noch fest. Jäger Wiese glaubt daher auch nicht daran, dass aus seinen Revieren der Austausch mit anderen Gebieten in Baden-Württemberg funktioniert. Warum sollte der Weg in den Nordschwarzwald einfacher fallen als der in den Spessart?
Dennoch sieht die Lage für die Rotwildfreunde nicht gut aus. So bekennt zwar Forstminister Peter Hauk, "grundsätzlich" stehe die Landesregierung einer Lebensraumerweiterung für Rotwild offen gegenüber. "Unumstritten" müsse man langfristig eine bessere Vernetzung der Teilpopulationen im Land sicherstellen. Doch dann kommt das dicke "Aber": das "hohe Risiko dieser Wildart für die Landwirtschaft, den Verkehr und vor allem die Forstwirtschaft".
Insbesondere die Waldbesitzer sind es, die ihre massiven Bedenken deutlich formulieren. "Wir sind in einer ohnehin kritischen Phase für den Wald", sagt Jerg Hilt, Geschäftsführer der "Forstkammer Baden-Württemberg", eines Waldbesitzerverbands. Der Klimawandel zwinge derzeit zu einem umfassenden "Umbau" des Waldes. Die bestehenden Rehwildbestände gingen besonders gerne an die jungen, neu gesetzten Bäume. "Wenn wir jetzt noch Rotwild dazu lassen, wären es noch mehr Verbissschäden – und dann noch die Schälschäden!"
Das "Schälen", also das Abkauen von Baumrinde, ist eine besondere Eigenart des Rotwilds. Selbst bei Wildschäden nur an einem Prozent des Waldbestands rechnet Hilt mit einem wirtschaftlichen Verlust von 50 Euro pro Hektar – das könne niemand ausgleichen. Übrigens auch die Jäger nicht. Für "hochpreisige" Rotwild-Jagdreviere zahle der Pächter 30 Euro pro Hektar, rechnet Hilt vor. Die Diskrepanz zum erwarteten Schaden ist auffällig.
Doch muss Rotwild den Wald schädigen? Wiese gibt zu: "Wir haben im Odenwald relativ hohe Schälschäden." Und es könne auch mal sein, dass ein Hirsch eine Fichte oder Kiefern "komplett dengelt" – dann nämlich, wenn er im Sommer die weiche Basthaut von seinem Geweih fege.
Grundsätzlich glaubt der Jäger aber, dass man mit gezieltem Wildmanagement die Schäden minimieren könne. Ein Beispiel: Von Ruhezonen und Äsungsflächen, auf denen das Rotwild auch bei Tag ungestört stehen könne, profitiere der Wald, ist Wiese überzeugt. Die Biologie verlange es, dass das Rotwild – ähnlich wie Kühe – dauerhaft die Verdauung in Gang halte. Wenn die Tiere sich tagsüber aber zwischen dichten Bäumen verstecken müssten, weil sie Abschuss oder Wanderer fürchteten, dann würden sie halt Rinde statt Gras kauen.
Im Odenwald hätten sie inzwischen zehn Hektar Wiesenflächen, vier Hektar Wildacker ausschließlich für das Rotwild hergerichtet, sagt Wiese. Und zahlreiche Bäume gepflanzt, die für die Waldbesitzer weniger interessant sind. "Da können sie ruhig mal Schäden anrichten." Er glaubt: "Mit kleinen Schritten können wir Reviere rotwildtauglich machen – und Schäden reduzieren."
Das ist eine Einschätzung, die die Experten der landeseigenen "Forstlichen Versuchs- und Forschungsanstalt Baden-Württemberg" (FVA) durchaus teilen. "Falsches Management der Tierart ist ein ausschlaggebender Faktor", sagt Forstwirt Max Kröschel mit Blick auf die beklagten Risiken. Die Wissenschaftler der FVA haben seit geraumer Zeit das Großwild im Blick, aktuell besonders intensiv im Nordschwarzwald. Sie wollen die Fakten für die emotionale Debatte über die Wildtiere liefern.
Beispiel Inzucht: Die Lage beim Rotwild ist laut FVA nicht ideal, aber auch nicht hochdramatisch. "Wir konnten genetischen Austausch in allen Gebieten belegen, allerdings unterschiedlich stark", sagt Kröschel mit Bezug auf eine Studie zwischen 2004 und 2007. In den kommenden drei Jahren soll die entsprechende Untersuchung wiederholt werden. Mit Ergebnissen sei 2023 zu rechnen.
Und so viel Zeit bleibe. Wenn genetische Verarmung drohe, so Kröschel, dann sei das "kein Prozess, der bei den derzeitigen Rotwilddichten innerhalb von 15 oder 20 Jahren stattfindet". Langfristig allerdings, so heißt es auch im "Wildtierbericht 2018" der FVA, sei der genetische Austausch nicht ausreichend.
Politisch bleibt die Lebensraum-Frage für den Rothirsch damit allerdings brisant. Wie schnell muss es gehen?
Während Forstminister Hauk zur Besonnenheit mahnt, macht inzwischen auch die oppositionelle SPD Druck. "Es gibt keine guten Gründe mehr, die seit den 1950er Jahren bestehenden Rotwildbezirke weiter aufrecht zu erhalten", fordert der jagdpolitische Sprecher der Landtagsfraktion, Reinhold Gall. Man müsse den Tieren Lebensbedingungen gewähren, die einer gesunden Arterhaltung nicht im Wege stehen.
"Der Verlust von genetischer Vielfalt innerhalb der Rotwildpopulation wäre unumkehrbar." Die Petition des Jagdverbandes begrüße er. "Für eine natürlichere Umwelt sollten die Rotwildgebiete stark ausgeweitet oder ganz aufgehoben werden."
Im Odenwälder Rotwild-Revier rechnet Andreas Wiese nicht mit einer schnellen Entscheidung. "Das Thema wird gerade ja eher emotional-politisch diskutiert, weniger sachlich", schmunzelt er. Schön wäre es schon, wenn es Bewegung gebe. Schrittweise. Aber er selbst sieht den "König des Waldes" ja sowieso regelmäßig. Zur Jagdzeit ist er manchmal das erste Mal morgens und dann wieder abends im Revier. Seit 30 Jahren schon.