"Es sind nicht alle Heime schlecht"
Bei den Führungskräften gibt es große Schwächen, die Unterbesetzung kommt noch oben drauf: Die ehemalige Altenpflegerin hat in "Nachts wach" die Bilanz ihres Berufslebens niedergeschrieben.

Von Roland Mischke
Berlin. war fast 20 Jahre lang Pflegerin in einem Altenheim, immer im Nachtdienst. In ihrem Buch "Nachts wach" beschreibt sie, was sie erlebt hat. Bedingung für das Interview war, dass sie inkognito bleibt und nicht die Stadt nennen muss, in dem das Heim steht, ihr ehemaliger Arbeitsplatz.
Frau Arlo, im Haus, in dem ich wohne, fragte ich eine 71-jährige Frau, ob sie später mal in ein Altenheim gehen würde. Die Antwort: "Nur mit einer Packung Zyankali!" Wie reagieren Sie?
Mit dieser Einstellung bin ich überhaupt nicht einverstanden. Es sind nicht alle Heime schlecht, einige sind sogar ganz hervorragend. In meinem Buch steht hinten ein Interview mit dem Geschäftsführer mehrerer Pflegeeinrichtungen, Marcus Jogerst-Ratzka. Er kann gut erklären, dass sich in den letzten Jahren in der Altenpflege viel zum Positiven verändert hat. Die Bewohner brauchen kein Zyankali mitzuführen.
Wie war es bei Ihnen mit den Führungskräften?
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Ich habe keine gute Führungskraft kennen gelernt. Der Leiter saß immer nur am Computer und hat sich nicht groß weder um Bewohner noch Personal gekümmert. Er hatte noch nicht einmal Ahnung von der Arbeit, die von uns auszuführen war. Er glaubte zum Beispiel, wir Pflegerinnen müssten nachts keine Betten beziehen. Da hat er sich getäuscht.
Warum haben Sie das Buch geschrieben?
Eigentlich hab ich es nur geschrieben, damit die Bewohnerinnen und Bewohner, mit denen ich zu tun hatte, nicht vergessen werden. Ich war aber auch sehr wütend. Ich habe stellvertretend über und für die Pflegekräfte alles aufgeschrieben, für meine jungen Kolleginnen und Kollegen, die heute diese Arbeit tun und im gleichen Schlamassel stecken wie wir damals, eigentlich noch schlimmer, durch die Pandemie. Ich habe das auch geschrieben, um zu zeigen, was meine Kolleginnen und Kollegen damals geleistet haben und heute noch leisten müssen.
Wie haben die Bewohner reagiert als Sie das Haus verließen?
Manche hatten mich gern, manche haben gar nicht viel mitgekriegt. Es waren ja alles Pflegefälle. Ist man nett zu den Leuten, bedauern sie es, wenn man geht.
Es gibt originelle Personen, von denen Ihr Buch berichtet, aber auch schwierige Zeitgenossen ...
Ich wollte nicht originelle Personen, sondern Menschen beschreiben, wie sie sind. Und als schwierig beschreibe ich sie auch nicht, sie waren eben so, wie sie waren. Es sind Berichte aus der Wirklichkeit, wie sie sich für die Bewohnerinnen und Bewohner aus meiner Sicht ereignete.
Sie schreiben, dass Sie Sterbenden oft nicht die Hand halten konnten. Aber Sie waren doch ganz nahe dran an den Menschen?
Natürlich waren wir ganz nah dran an ihnen, aber wir hatten keine Zeit. Darum geht es. Wir waren zu wenig Leute im Dienst. Das ist ja das Schlimme daran, dass wir nah dran waren und dennoch nicht helfen konnten.
Wenn es ans Sterben geht, welche Verhaltensweisen haben Sie da erlebt?
Diese Frage kann man nur einem Palliativteam oder einer Sterbebegleiterin stellen. Ich habe als Pflegehelferin gearbeitet und Fachkräfte bei ihren Tätigkeiten unterstützt.
In einem Hamburger Altenheim verliebten sich Bewohner, für die neuen Beziehungen wurden zwischen Zimmern sogar Wände abgerissen. Gibt es im Altenheim noch die letzte große Liebe?
Natürlich gibt es für manche Menschen die letzte große Liebe. Davon berichte ich in meinem Kapitel "Liebe". Jeder weiß, dass im Alter neue Beziehungen möglich sind und stattfinden. Da gab es den Herrn Bender, 82, und die Frau Reich, 78. Das zärtlichste Liebespaar, das man sich nur vorstellen kann. Herr Bender hat jeden Morgen zwischen sechs und sieben Uhr bei Frau Reich angeklopft, er hat seiner Angebeteten eine Tasse herrlich heißen Kaffee gebracht. Frau Reich lag in ihrem Bett, drehte an ihren Ringelchen und lächelte.
Ist in einem Pflegeheim Sex erlaubt?
Marcus Jogerst-Ratzka sagt: "Sexualität ist ein menschliches Grundbedürfnis. Einer Pflegefachperson kommt eine Rolle zu, die wichtig ist. Wir schaffen geschützte Räume und unterstützen beim Ausleben von Beziehung und Sexualität. Wir haben ein Auge darauf, dass sie den Beteiligten gut tut. Und wir schützen vor Übergriffigkeit. Dazu braucht es menschliche Eignung, Fachwissen und das Setzen von Grenzen."
Sie erwähnen die Scham von Bewohnern und Bewohnerinnen, wenn sich Urinflecken an der Kleidung abbilden oder eine Beckenregion gewaschen wird. Wie konnten Sie helfen?
Es war meine Arbeit zu helfen. Wir haben die Windeln gewechselt, manche haben sich weniger heftig, andere dagegen heftig gewehrt, weil sie es nicht mehr verstanden haben. Wenn jemand aggressiv ist und gar mit Windeln schmeißt, bringt Sprechen meist nicht mehr viel. Aber wir haben unsere Arbeit gemacht, man muss sie machen. Irgendjemand muss sie machen.
Wenn Sie demnächst ins Altenheim gehen, haben Sie ein Einzelzimmer. Macht das den Einzug leichter?
Demnächst gehe ich nicht ins Altenheim. Ich habe mich nur schon mal angemeldet dort, wo es nur Einzelzimmer gibt. Ich gehe erst ins Altenheim, wenn es wirklich nicht mehr anders geht.
Sie haben angekündigt, eine gute Bewohnerin sein zu wollen. Wie werden Sie das hinkriegen?
Das werde ich sehen. Falls ich einen Schlaganfall oder Hirnschlag kriege, kann ich nicht mehr bestimmen, wie ich sein werde. Wenn ich pflegebedürftig bin und wirr im Kopf, bin ich nicht mehr ich selbst.