Yasmin Fahimi im RNZ-Interview

"Die Tarifflucht muss gestoppt werden"

Die DGB-Chefin schlägt vor, Staatsaufträge nur noch an Unternehmen zu vergeben, in denen Tarifverträge gelten.

29.09.2023 UPDATE: 29.09.2023 06:00 Uhr 2 Minuten, 24 Sekunden
DGB-Chefin Fahimi
Yasmin Fahimi, Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), im Gespräch bei der Hamburger Hafen und Logistik AG (HHLA) im Rahmen ihrer Sommertour auf dem Containerterminal Altenwerder CTA.
Interview
Interview
Yasmin Fahimi
Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB)

Von Gernot Heller, RNZ Berlin

Berlin. Die frühere SPD-Generalsekretärin und Bundestagsabgeordnete Yasmin Fahimi (56) ist seit Mai 2022 Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). Zu Gewerkschaftsarbeit kam sie einst als wissenschaftliche Mitarbeiterin zur Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie.

Im RNZ-Interview spricht sie über Möglichkeiten, die Sozialpartnerschaft und die Gültigkeit von Tarifverträgen zu stärken. Soziale Stabilität, so die studierte Chemikerin, sei das beste Mittel gegen Populisten.

Die Kluft zwischen Arm und Reich wird tiefer, das gesellschaftliche Klima kälter. Was hat das mit der Sozialpartnerschaft in Deutschland zu tun?

Das Modell der Sozialpartnerschaft ist in unserer Verfassung verankert. Sie ist die Basis für unseren Auftrag, die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen fair zu gestalten. Allerdings erleben wir seit Jahrzehnten, dass sich die Arbeitgeber aus dieser Sozialpartnerschaft immer weiter herausziehen. Das führt im Erwerbsleben zu einer wachsenden Spaltung – zwischen Menschen, die unter dem Schutz von Tarifverträgen und betrieblicher Mitbestimmung arbeiten, und solchen, die es nicht tun.

Doch insbesondere in Bereichen ohne Tarifverträge beobachten wir sinkende Realeinkommen, erhöhte Belastungen und schlechter werdende Arbeitsbedingungen. Somit bröckelt das Wohlstands- und Aufstiegsversprechen, das sich mit der Sozialpartnerschaft verbindet. Eine solche Spaltung der Erwerbsgesellschaft können wir uns nicht leisten. Unsere Gesellschaft braucht ein entschlossenes Gegensteuern.

Wodurch kommt es zu einer solchen Schwächung der Sozialpartnerschaft von Arbeitgebern und -nehmern?

Ein Faktor sind politische Fehlentscheidungen der Vergangenheit. Ich denke beispielsweise daran, dass man Fördermittel des Staates nicht an klare Standortzusagen der Arbeitgeber und an Tarifverträge gebunden hat. Das betrifft in besonderem Maße Ostdeutschland: Die Ansiedlung von Betrieben wurde geradezu damit geködert, dass es dort keinerlei Tarifverträge mehr brauche. Ein weiterer Aspekt ist die wachsende Ideologisierung der Arbeitgeber seit der Wiedervereinigung, mit der sich viel zum Negativen verschoben hat.

Tarifverträge wurden immer häufiger über Bord geworfen und prekäre Arbeitsverhältnisse als Geschäftsmodell verfolgt. Dem muss sich die Politik entgegenstellen. Sonst gerät das übergeordnete Ziel einer gesunden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung in Gefahr. Soziale Stabilität und Teilhabe aller Menschen am erwirtschafteten Wohlstand sind im Übrigen die besten Mittel gegen Populisten.

Gerät die Sozialpartnerschaft in Gefahr, wenn sich immer mehr Firmen aus der Tarifbindung verabschieden?

Die, die das tun, tragen die Sozialpartnerschaft zu Grabe. Diese Tarifflucht stellt in den letzten drei Dekaden einen geradezu kontinuierlichen Prozess dar, der zeitweise politisch durchaus gewollt war. Das muss gestoppt werden. Auch die EU hat eine Stärkung der Tarifbindung auf mindestens achtzig Prozent als Ziel ausgegeben.

Zurecht – denn wir beobachten überall dort, wo wir eine hohe Tarifbindung haben, eine anhaltend positive Reallohnentwicklung und stabilere wirtschaftliche Entwicklung. Hingegen gab und gibt es dort, wo Beschäftigte nicht unter den Schutz von Tarifverträgen fallen, dramatische Verluste bei den Reallöhnen.

Was kann und muss die Politik tun?

Sie muss vor allem ein neues Vergabegesetz verabschieden, das sicherstellt, dass es ohne Tariftreue keine Staatsaufträge mehr gibt. Denn eine schwache Tarifbindung und fehlende Teilhabe am erwirtschafteten Wohlstand führen zu schweren volkswirtschaftlichen Schäden. Es geht hier um hundert Milliarden Euro, die uns jährlich an Steuern, Sozialbeiträgen und Kaufkraft verloren gehen. Der Staat muss also auch aus Eigeninteresse dafür sorgen, dass es wieder mehr Tarifbindung gibt, und das politische Signal setzen, dass er bei eigenen Aufträgen nach diesem Kriterium verfährt.

Halten Sie angesichts der wirtschaftlichen Schwäche in Deutschland ein großes Konjunkturprogramm für nötig?

Ich bin der festen Überzeugung, dass wir kein allgemeines Konjunkturprogramm brauchen. Was wir benötigen, sind zielgerichtete Instrumente und Programme des Staates, um die Wirtschaft zu stabilisieren und Arbeitsplätze zu sichern. Ich denke beispielsweise an die Bauwirtschaft, aber auch an energieintensive Industrien.

Im Blick haben müssen wir auch die öffentliche Daseinsvorsorge mit der Frage, wie etwa Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen mit energiepreisgetriebenen Mehrkosten umgehen sollen. All diese zielgerichteten Programme müssen an Tariftreue und Standortvereinbarungen gebunden sein. Was wir benötigen, sind starke Impulse für eine auch zukünftig stabile Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung in Deutschland.

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