Deutsche Wehrmachtsakten kehren digital aus Russland heim
Politisch herrscht Eiszeit zwischen Deutschland und Russland, doch die Zusammenarbeit von Historikern läuft weiter. Eines der verschlossensten russischen Archive öffnet seine Bestände.

Akten der deutschen Wehrmacht in Zentralen Archiv des russischen Verteidigungsministeriums in Podolsk bei Moskau. Foto: dpa
Von Friedemann Kohler
Podolsk (dpa) - Im Zentralarchiv des russischen Verteidigungsministeriums lagert ein besonderer Schatz: 28 000 Bände Akten der deutschen Wehrmacht. Von der großformatigen Lagekarte bis zum kleinen Schmierzettel sind es geschätzt 2,5 Millionen Blatt Papier, die in der Stadt Podolsk bei Moskau gehütet werden. Sie dokumentieren die Niederlage Nazideutschlands im Ostfeldzug gegen die Sowjetunion. Die Rote Armee erbeutete diese Akten auf ihrem Siegeszug bis Berlin 1943 bis 1945.
Wie auch die Beutekunst aus Deutschland hat Russland die Dokumente zu Staatseigentum erklärt. Doch sieben Jahrzehnte nach dem verheerenden Zweiten Weltkrieg heben Deutsche und Russen den Aktenschatz auf pragmatischem Weg: Bis 2018 soll der gesamte Bestand digital aufgenommen und im Internet der Forschung zugänglich gemacht werden.
"Die Akten werden virtuell zurück nach Deutschland gebracht", sagt der Wissenschaftler Matthias Uhl vom Deutschen Historischen Institut (DHI) in Moskau. Politisch knirscht es derzeit zwischen Deutschland und Russland wegen der Ukraine-Krise. Das macht das wissenschaftliche Vorhaben umso wertvoller. Beide Seiten zeigen, dass Kooperation weiter möglich ist.
"Unsere Aufgabe ist, diese Dokumente so gut zugänglich wie möglich zu machen", sagt auch Igor Permjakow, der Direktor des Militärarchivs CAMO. Im Lesesaal zeigt er einige Kostbarkeiten, zum Beispiel Notizen aus dem Kriegstagebuch der Heeresgruppe Mitte. "Dörfer, Wälder in der Frontzone abbrennen. Sprengung der Kirche von Nikolino" steht darin als Befehl nach einem Frontbesuch von Generalfeldmarschall Hans Günther von Kluge 1942. Eine Karte zeigt die Partisanenbewegung, in der Wehrmachtssprache die "Bandenlage", auf der besetzten Krim 1944.
Im Kellergeschoss des Archivs werden die Akten abfotografiert. An einem Gerät schaffen die russischen Mitarbeiterinnen 300 Blatt am Tag, am Doppelscanner nebenan sind es bis zu 800 Blatt. "Die Hälfte des Bestandes sind Landkarten", erläutert Permjakow. Besonders große Karten werden in einem Vakuumkasten gegen eine Glasscheibe gepresst, dann erfasst eine hochauflösende Kamera jedes noch so kleine Detail.
Die deutsche Seite hat viele dieser Spezialgeräte gestiftet und trägt zu den Personalkosten der russischen Archivmitarbeiter bei. "Das CAMO ist für uns ein ganz wichtiger Partner", sagt DHI-Direktor Nikolaus Katzer. Bis 2018 wird das Vorhaben 2,5 Millionen Euro kosten. Den Großteil gibt die staatliche Max-Weber-Stiftung, die Trägerin der Deutschen Historischen Institute im Ausland.
Deutsche Historiker arbeiten seit dem Jahr 2000 mit dem CAMO zusammen. Damals ging es um die Digitalisierung deutscher Akten zu den drei Millionen sowjetischer Kriegsgefangener im Dritten Reich. Die Verhandlungen über das neue Projekt schleppten sich seit 2010 dahin, erst Ende 2012 machte der neue Verteidigungsminister Sergej Schoigu den Weg frei.
Versuchsweise wurden zunächst 500 Aktenbände deutscher Militärakten zum Ersten Weltkrieg digitalisiert, sie gingen 2015 online. Uhl und seine DHI-Kollegen wissen, dass sie mit dem "am schwersten zu knackenden Archiv" in Russland zusammenarbeiten. Sie hoffen darauf, dass das Wohlwollen der Militärs lange genug anhält, um das Projekt abzuschließen.
"Man darf von den Akten nicht erwarten, dass die Geschichtsschreibung zum Zweiten Weltkrieg über den Haufen geworfen wird", sagt Uhl. Sie seien aber eine unverzichtbare Ergänzung zum deutschen Bestand an Wehrmachtsakten im Militärarchiv des Bundes in Freiburg. Die Dokumente in Podolsk ermöglichten einen genaueren Blick gerade auf die zweite Hälfte des Ostfeldzugs, auf Niederlage und Rückzug der Wehrmacht.
Die Akten belegen auch, wie die Russen unter der Besatzung litten. Die von deutschen Soldaten begangenen Grausamkeiten führten dazu, "das die Bevölkerung lieber durch die Partisanen gegen die Deutschen als umgekehrt geschützt sein möchte", warnte ein Bericht von 1942.