Von Olaf Neumann
Mit der Band "Fury In The Slaughterhouse" sind Kai und Thorsten Wingenfelder bekannt geworden. Seit zehn Jahren verfolgen die beiden ihr deutschsprachiges Projekt Wingenfelder. Dafür haben die "Geschichtenerzählerrocker" aus Hannover das Studioalbum "SendeschlussTestbild" mit zehn abwechslungsreichen Songs zwischen Leichtigkeit und Tiefe eingespielt. Mit Sänger Kai Wingenfelder sprachen wir über deutsche Geschichte, Bildung und Verschwörungstheoretiker.
Wann haben Sie das Album "SendeschlussTestbild" eingespielt?
Kai Wingenfelder: Bereits vor der Pandemie. Es sollte eigentlich im Februar veröffentlicht werden. Es war aber ganz klar abzusehen, dass das nichts wird, weil wir aufgrund des Lockdowns keine Promo machen konnten. Zwischen den Songs "Aragona" und "SendeschlussTestbild" liegen Welten.
Gibt es eine Klammer?
Beide behandeln Themen, die gerade in dieser Zeit wichtig sind. Auf der einen Seite sollte man gegenüber den "freundlichen" Herren aus der Rechtsaußenfraktion Flagge zeigen. Manche sehen gar nicht, wie sehr sie da manipuliert werden. Denen muss man deutlich sagen, dass sie aufpassen sollten, weil sie sonst das verlieren, was sie eigentlich behalten wollen. Andererseits ist es bei dem ganzen Mist, der hier passiert, wichtig, auch mal leicht sein zu können. "Aragona" ist die Geschichte meines Urlaubs. Hätte ich sie mir ausgedacht, wäre ich in der Schlagerfraktion gelandet. Aber sie ist wahr.
Im Titelsong "SendeschlussTestbild" sind die Originalstimmen von Politikern wie Donald Trump, Alexander Gauland und Uwe Barschel zu hören. Wollen Sie mit dem Lied Ihren Politfrust ausdrücken?
Es drückt auf alle Fälle einen Teil meines Politfrustes aus. Aber ich bin eher verärgert. Ich gehe damit offensiv um, indem ich meine Verärgerung plakativ nach außen trage. Alles, was dazu zu sagen ist, habe ich in diese zehn Zeilen hineingepackt. Man kann es auch nicht missverstehen.
Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie Alexander Gauland im TV sagen hörten, dass die NS-Zeit "nur ein Vogelschiss" in der deutschen Geschichte gewesen sei?
Ich habe von dem Typen nichts anderes erwartet, als dass er das so offen und selbstbewusst vorträgt. Das verdrehte Geschichtsbewusstsein in diesem Land macht mir Sorgen. Der Stellenwert der Bildung in Deutschland ist extrem niedrig. Die Kids wissen gar nicht, warum ich darüber so sauer bin. Neulich habe ich auf Facebook ein Best of der "Urlaubsfotos" aus Auschwitz gesehen. Darauf hängen sich Kinder in Stacheldraht und schneiden Grimassen. Ich glaube, nach 75 Jahren Frieden können Kids sich einfach nicht mehr vorstellen, wie es im Krieg ist. Ich war auch nicht dabei, aber ich habe die Wunden am Körper und in der Seele meines Vaters gesehen.
Hat Ihr Vater mit Ihnen über seine Kriegserfahrungen gesprochen?
Nein, das konnte er nicht. Meine Mutter hat uns aber erzählt, wie sie vor den Bomben geflohen ist. Diese Dinge sind sehr weit weg von der jungen Generation. Sie ist nicht in der Lage, ihr Verhalten zu reflektieren. Wenn du den ganzen Tag vor einem Videospiel sitzt und irgendwelche Figuren über den Haufen ballerst, verlierst du die Distanz. Selbst deren Eltern, die teilweise jünger sind als ich, haben kein Gespür mehr für das, was damals war und warum es nicht wieder so sein sollte. Es sollte uns zu denken geben, dass außer Politikern und Intellektuellen niemand laut aufschreit, wenn Onkel Gauland vom "Vogelschiss" spricht.
Sie sind zweifacher Vater. Haben Sie das Gefühl, dass in der Schule zu wenig Geschichtsbewusstsein vermittelt wird?
Ich möchte nicht, dass die Deutschen ein kollektives Schuldbewusstsein haben, aber die Schule hat einen Bildungsauftrag. Genau wie öffentlich-rechtliche Radio- und Fernsehstationen. Zu dieser Bildung gehört Geschichte mit dazu. Aber sie wird so gut wie gar nicht mehr gelehrt. Wer nicht weiß, was war, kann schwer abschätzen, welche Gefahren kommen werden. Das sieht man an Amerika, England, Ungarn oder Brasilien. Bildung ist das größte Kapital einer Gesellschaft. Man demonstriert in Berlin nicht für Meinungsfreiheit, wenn man bereits auf der Straße steht und die Freiheit hat zu schreien. Da wird etwas ad absurdum geführt.
Wie erklären Sie sich das?
Wären diese Leute intelligent genug, um zu begreifen, dass Deutschland eine Solidargemeinschaft ist, dann würden sie sich anders aufführen. Aber so reißen sie vielleicht ihren eigenen Großvater mit in die Scheiße. Ich will nicht sagen, früher war alles besser, aber ich fände es zum Beispiel wichtig, junge Menschen an die Gesellschaft vor 20 Jahren heranzuführen. Aber wer will das schon als Videospiel haben.
Was wäre, wenn man die Verschwörungstheoretiker und Extremisten einfach ignorieren würde?
Würde man ihnen weniger Aufmerksamkeit zukommen lassen, würden sich ihre Botschaften vielleicht weniger exponentiell verbreiten. Andererseits muss man sie trotzdem beobachten, weil das Aggressionspotenzial innerhalb dieser Gruppierung enorm gestiegen ist. Die brüllen nicht nur "Lügenpresse", sondern auch ganz andere Dinge. Weil sie mit den Problemen, die die Pandemie ihnen bereitet, nicht klarkommen, behaupten sie: "Wir leben in einer links-faschistoiden Merkel-Stasi-Diktatur". In Wahrheit wissen die gar nicht, wie Diktatur funktioniert! Leider bieten die Sozialen Medien solch gefährlichen Menschen eine Projektionsfläche.
Sind Sie jemand, der "Fakten checkt und nachhakt und nicht blind glaubt", wie es in einem Ihrer Songs heißt?
Ich habe auch schon mal den Fehler gemacht, auf Facebook etwas weiterzuposten, über das ich mich tierisch aufgeregt habe. Hinterher wurde ich darauf aufmerksam gemacht, dass ich vorher besser die Fakten geprüft hätte. Deswegen bin ich jetzt ein bisschen vorsichtiger und schaue erst in seriösen Zeitungen nach, bevor ich etwas poste. Aber wer macht denn das noch?
Info: Das Album "SendeschlussTestbild" ist vor kurzem erschienen. Live sind "Wingenfelder" voraussichtlich am 19. März 2021 in der Kulturhalle Feudenheim in Mannheim zu sehen.