Nicoles "Grand Prix"-Titel ist aktueller denn je
Vor 40 Jahren holte die Sängerin den ersten Sieg für Deutschland.

Von Michael Ossenkopp
Harrogate/Turin. Schüchtern, im hochgeschlossenen Kleid saß sie mit ihrer Gitarre auf einem Hocker. So präsentierte Sängerin Nicole den deutschen Beitrag beim 27. Grand Prix Eurovision de la Chanson im englischen Harrogate. Am 24. April 1982 brachte das Lied "Ein bisschen Frieden" Deutschland den ersten Sieg in dem Wettbewerb, der heute Eurovision Song Contest (ESC) heißt. Die damals 17-jährige Saarländerin rührte mit ihrer schmalzigen Ballade ganz Europa zu Tränen, aus neun Ländern gab es die Höchstpunktzahl "douze points" ("zwölf Punkte"). Komponiert von Ralph Siegel und getextet von Bernd Meinunger, passte das Lied offenbar perfekt in die Zeit – und ist exakt 40 Jahre später aktueller denn je.
Anfang der 1980er Jahre protestierte die Friedensbewegung in der Bundesrepublik gegen den Nato-Doppelbeschluss und gegen die Aufstellung neuer "Pershing II"-Atomraketen; im Oktober 1981 hatten sich über 300.000 Menschen zu einer Demonstration am Bonner Hofgarten eingefunden. In Polen herrschte General Jaruzelski mit Kriegsrecht und im Nahen Osten drohte eine neue Eskalation. Großbritannien, Gastgeberland des Grand Prix, bereitete sich auf einen Krieg gegen Argentinien um die Falklandinseln vor.
Wobei aktuelle Konflikte für den Komponisten angeblich nur bedingt eine Rolle gespielt haben sollen. In seiner ursprünglichen Fassung wollte Siegel das Lied noch "Frieden für die Welt" nennen. Dann entschärfte er den Titel, der ihm "in Richtung Friedensbewegung zu weit ging". Auch Sängerin Nicole betonte, das Lied sei nicht als ein Beitrag mit politischer Aussage zu verstehen: "Das möchte ich ganz, ganz scharf trennen. Ich singe nicht für die Friedensbewegung und die Demonstrationen, die veranstaltet werden."
Im Interview mit der Jugendzeitschrift "Bravo" ging sie noch weiter: "Politik interessiert mich nicht." Kritiker sahen die musikalisch wenig innovative Schnulze auch politisch eher naiv. "Wie eine Blume am Winterbeginn, und so wie ein Feuer im eisigen Wind ...", triefte der Text vor bedeutungsschwangerem Kitsch. Allerdings war Nicoles Auftritt perfekt inszeniert: Die Sängerin hatte eine übergroße, weiße Gitarre auf dem Schoß, begleitet wurde sie von einem Orchester in weißen Anzügen inklusive einer Harfinistin sowie Siegel am schwarzen Piano. Die Friedensbewegung empfand das Lied fast schon als eine Provokation. "Ein bisschen Frieden" gäbe es nicht, das sei wie "ein bisschen schwanger" – Pazifisten forderten einen "totalen Frieden".
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Dennoch lag nach der Abstimmung der internationalen Jury der Song mit 61 Punkten Vorsprung einsam in Front. Nicole war als 18. und letzte Teilnehmerin aufgetreten, mit Ausnahme von Luxemburg erhielt das Stück aus jedem Land Punkte. Schließlich gewann die Ballade mit 161 Punkten vor Israel und der Schweiz. Bei der abschließenden Präsentation des Siegertitels trug Nicole das Lied zum Teil auf Englisch, Französisch und Niederländisch vor.
Schon vor dem Wettbewerb galt Nicole als Favoritin auf den Sieg. Den deutschen Vorentscheid "Ein Lied für Harrogate" am 20. März 1982 hatte sie mit großem Stimmenvorsprung für sich entschieden. Zwei Tage später stürmte das Lied an die Spitze der nationalen Hitparade und blieb dort für fünf Wochen. Weltweit verkaufte sich die Single über fünf Millionen Mal. Nach dem Sieg in Harrogate begann für Nicole eine steile Karriere. Sie wurde Dauergast in der ZDF-Hitparade und gewann die "Goldene Europa" als beste Schlagersängerin. Bis heute hat sie fast 30 Studioalben veröffentlicht. Der erste ESC-Sieg für Deutschland machte auch Komponist Ralph Siegel zu einem unvergessenen Grand-Prix-Helden. Insgesamt bringt es "Mr. Grand Prix" auf 25 ESC-Teilnahmen.
Das diesjährige ESC-Finale findet am 14. Mai in Turin statt. Zu den Favoriten gehört die Band "Kalush Orchestra" aus der Ukraine – dem Land, das mehr als nur "ein bisschen Frieden" braucht.