23 Jahre lebte sie in einer jüdischen Sekte. Nach der Flucht suchte sie sieben Jahre ihre Identität. Jetzt ist Deborah Feldman 31 - und endlich frei. Sebastian Riemer hat die Bestseller-Autorin getroffen.
Zwei Jahrzehnte lang lebt Deborah Feldman in einem Korsett aus Regeln und Verboten. Bewegt sie sich zu heftig, wird es enger geschnürt - von ihrer Familie, die zur ultraorthodoxen jüdischen Glaubensgemeinschaft der Satmarer Chassiden gehört. Das junge Mädchen wächst in einer der aufregendsten Städte der Welt auf, New York. Doch sie kommt nie raus aus Williamsburg, einem Stadtteil, in dem 70.000 Mitglieder dieser Sekte leben. Die Skyline Manhattans sieht Deborah täglich - aber sie kommt ihr nie näher.
Und jetzt, mit 31, sitzt Feldman im roten Kleid vor dem "River Café" in Heidelberg und diskutiert mit dem Kellner. Er bittet sie, zu rutschen, da der Stuhl zu weit in den Gehweg hineinrage. Sie empfindet das als Schikane - und will eine Erklärung. Sie bombardiert ihn mit Fragen, er ist überfordert, der Stuhl stand halt falsch. Irgendwann lässt sie ihn gehen. Später sagt sie: "Ich habe gelernt, nicht zuzulassen, dass jemand meine Grenzen überschreitet." Sie rechtfertigt sich nicht, sie erklärt das nur. Ihre Grenzen sind nun einmal wichtiger als Nettigkeiten.
In Deborahs Kindheit beachtet niemand ihre Grenzen. Ihr Wille zählt nicht. In ihrem Korsett ist alles vorbestimmt. Was Deborah isst. Was Deborah lernt - nach den Maßstäben weltlicher Schulen ist es nicht viel. Wann Deborah heiratet. Und wen. Doch Deborah passt das Korsett nicht. Es beißt und zwickt. Und gegen alle Wahrscheinlichkeit lockert sie es. Mit Büchern, die sie ins Haus schmuggelt, versteckt und heimlich liest, löst sie die Schnürung nach und nach. Sie wird mit 17 verheiratet, bekommt einen Sohn. Und geht hinter dem Rücken ihrer Familie aufs College.
Seitdem Feldman ihre Geschichte in dem Bestseller "Unorthodox" aufgeschrieben hat, muss sie immer wieder eine Frage beantworten: Wie, zur Hölle, hat sie es geschafft, da rauszukommen? Gelingt überhaupt jemandem die Flucht von den Satmarern, sind es fast immer Männer. Viele Aussteiger, die Feldman kennenlernte, sind heute tot. Sie konnten sich in ihrem neuen Leben nicht zurechtfinden. Sie brachten sich selbst um. Journalisten nennen die 31-Jährige gerne "mutig", das hasst sie. "Es ist unsensibel und selbstgefällig." Alles sei reines Glück gewesen. "Nennen wir mich mutig, heißt das doch: Frauen, die es nicht schaffen, fehlte einfach nur der Mut - und das ist Unsinn!"
Der endgültige Auslöser ihrer Flucht ist ein Autounfall. "Ich lag im Krankenhaus mit meinem Sohn in den Armen und da wusste ich ganz plötzlich: Ich muss gehen, ich muss auch ihn retten." Es war dann doch nicht einfach nur Glück. "Ohne meine mütterlichen Instinkte hätte ich das nie geschafft."
Die Frau, die ihr Korsett zerriss
Die Leser ihres Erstlings waren überwältigt: Was für eine Geschichte, was für eine starke Frau! Deborah Feldmans Leben inspirierte Millionen, gab ihnen Hoffnung. Doch so einfach ist es nicht, gibt Feldman zu verstehen: "Ich könnte meinem 23-jährigen Ich nicht empfehlen, das noch einmal zu tun." Das klingt nach Reue, so, als gehe es ihr heute schlecht, aber so ist es nicht. "Ich bin glücklich, endlich. Aber die sieben Jahre nach meiner Flucht waren härter als alles, was ich mir vorstellen konnte." Sie würde das einfach nicht noch einmal durchleben wollen.
Als Feldman mit 23 ihren Sohn nimmt und Williamsburg verlässt, ist sie eine leere Hülle, ein Mensch ohne Identität. In ihrem zweiten Buch "Überbitten", in dem sie ihre siebenjährige Odyssee nach dem Weggang erzählt, schreibt sie: "Ich habe Persönlichkeiten anprobiert wie Kleider." Aber keine passt.
Durch ihre Flucht hat sie die Sicherheit ihrer Kindheit gegen Freiheit eingetauscht. Nun hat sie nichts mehr, außer ihrem Sohn und ihrem Willen. Ihr Erstlingswerk macht sie über Nacht zum Medienstar - und finanziell unabhängig. Plötzlich ist da wieder materielle Sicherheit, aber ihre Freiheit ist in Gefahr. Auf der Straße wird sie jetzt erkannt. Und ihre Familie schickt Briefe, dass sie sich doch besser umbringen solle. Sie packt ihren Sohn wieder ein, flieht noch einmal, dieses Mal von Manhattan aufs Land. Dort liest sie den Kanon der europäischen Literatur - und ahnt: Ich muss nach Europa.
Heute lebt Feldman in Berlin. Ausgerechnet in Berlin. In der Hauptstadt jenes Landes, auf dessen beispiellosem Menschheitsverbrechen der negative Gründungsmythos der chassidischen Gemeinschaft fußt. Die gesamte Familie von Feldmans Großmutter wurde an einem Tag in Auschwitz ermordet. "Nur sie wurde als arbeitsfähig selektiert." Ihre Oma war in Williamsburg der einzige Mensch, bei dem sie sich angenommen fühlte. "Sie hat nie verkraftet, dass sie als Einzige überlebt hat." Deshalb war die Gemeinschaft mit ihrem radikalen Schuldkomplex so gut für ihre Großmutter, weil deren wichtigste Regel war: Sei nicht glücklich, gönn Dir nichts!
Doch Feldman will nach ihrer Flucht glücklich sein, will sich etwas gönnen. Dafür braucht sie Klarheit, sie muss verstehen, wer sie ist. Das geht nur dort, wo ihre Wurzeln liegen. Sie erlebt in Ungarn, der Herkunft ihrer Großmutter, den neuen Antisemitismus, erschrickt in Spanien über die völlige Abwesenheit jüdischen Lebens - und lernt ein Deutschland zwischen Willkommenskultur und Neonazis kennen. Und ausgerechnet dort, wo eine jüdische Identität so selten geworden ist, findet Deborah Feldman ihre eigene. Und sie versteht: Alle Wurzeln zu kappen, bringt nichts. Sie muss sich mit ihren versöhnen.
Berlin ist Deborah Feldmans gelobtes Land. "Hier muss sich keiner assimilieren, ich wurde nach einem Tag als Berlinerin wahrgenommen." Einsam und wurzellos - so kämen dort fast alle an. "Die Menschen fliehen nach Berlin vor irgendeinem Druck, sei es aus Gambia oder aus ihrem schwäbischen Heimatdorf. Und wenn sie hier ankommen, sind sie frei." Deshalb habe sie hier die ersten richtigen Freunde ihres Lebens gefunden. "Heute kann ich sagen: Ich bin angekommen - aber ich habe keine Ahnung, wie ich das geschafft habe", sagt Feldman. Sie hatte keinen Masterplan. Sie hat nur einfach immer weitergemacht.
Und doch gibt es eine Antwort darauf, wie sie das geschafft hat. Es ist der Titel ihres Buches. "Überbitten" kommt aus Feldmans Muttersprache, dem Jiddischen, und bedeutet so etwas wie "unwahrscheinliche Eintracht". Gemeint ist eine Versöhnung ohne Aussprache, die möglich ist auch zwischen Menschen mit eigentlich unüberbrückbaren Differenzen. Möglich auch zwischen der Enkelin einer Holocaust-Überlebenden und der Stadt, in der die "Endlösung" erdacht wurde.
Endgültig in Deutschland angekommen ist Deborah Feldman im April 2017 - weil der deutsche Rechtsstaat binnen einer Woche zwei Entscheidungen fällt. Donnerstags bestätigt ein Gericht die Haftstrafe für einen Neonazi, weil er in einem Berliner Spaßbad sein Auschwitz-Tattoo offen getragen hatte. Deborah Feldman war damals in dem Schwimmbad. Sie sah den Lagereingang auf dem Rücken des feisten Nazis, darunter den Spruch "Jedem das Seine" - und hatte sich noch nie so machtlos gefühlt. Als er verurteilt wird, sitzt sie im Gerichtssaal. Und an diesem Tag kann sie die Lasten der Vergangenheit ablegen. "Es hat mich kraftvoll in die Gegenwart katapultiert", schreibt sie.
Zwei Tage zuvor - an einem Dienstag in ein und derselben Woche - wird Deborah Feldman deutsche Staatsbürgerin. Ihr altes Korsett liegt in Fetzen am Boden. Es gibt einen Grund, warum sich Feldmans autobiografische Bücher lesen wie Romane: ihr Leben ist einer.