Nichts als Schweigen

Ein Schweige-Wochenende und der Versuch, die Gedanken in den Griff zu kriegen: Ein Kloster steht für Ruhe und Besinnlichkeit. Hinter dicken Mauern kann man dem Alltag den Rücken kehren und neue Kraft schöpfen

05.03.2012 UPDATE: 05.03.2012 17:25 Uhr 5 Minuten, 8 Sekunden
Von Karin Kura

Bei der Suche nach Ruhe und Ausgeglichenheit spielt die Wortlosigkeit eine große Rolle: Ohne Schweigen keine Stille. Ein verschwiegenes Wochenende bietet beispielsweise das Kloster Marienthal an, ein kleiner Wallfahrtsort im Westerwald. An knapp drei Tagen kann man dort gemeinsam mit anderen üben, ohne Worte auszukommen. Nur schweigen und meditieren. Im Sitzen, im Gehen, beim Spaziergang, beim Frühstück, Mittagessen, und beim Abendbrot. Klingt einfach, könnte man meinen. Braucht man doch bloß den Mund zu halten, mehr nicht. Ein Irrtum!

An einem Freitagnachmittag beginnt das Wochenende in Marienthal. Wir treffen uns im großen, weiß getünchten Raum. Für jeden liegt ein Stück Flokati-Teppich von der Größe eines Badehandtuchs auf dem Boden. Darauf stehen niedrige Sitzbänkchen. Jeder der acht Frauen und drei Männer sucht sich einen Platz. Meditationsleiterin Christiane zündet eine weiße Kerze in der Mitte an, neben einer Rose und einem schwarzen Kreuz.

Fast alle haben Erfahrung mit Schweige-Meditationen, nur ich bin blutige Anfängerin. Und Ursula. Nach der Begrüßung fragt Christiane: "Was bringt ihr mit ins Kloster Marienthal, was ist euer Thema?" "Ich bin einfach nur froh, hier zu sein", beginnt Verona, und die anderen nicken zustimmend. "Mir ist etwas sehr Trauriges passiert, das will ich näher an mich heranzoomen", sagt Renate. Ursula überlegt kurz und erklärt: "Mein Thema ist, loszulassen". So gibt jeder ein kurzes Statement ab, Theo hofft auf Entspannung und mehr Gelassenheit, Rolf antwortet als letzter und sagt: "Ich schenke mir einfach Zeit!"

Christiane sitzt, ganz in Schwarz gekleidet, aufrecht auf einem weißen Sitzkissen. Die Beine hat sie übereinander geschlagen. Hinter ihr steht ein großer Gong. "Jetzt beginnen wir mit dem Schweigen und Meditieren", sagt sie und blickt ernst in die Runde. "Wir wollen lauschen statt reden, uns selbst wahrnehmen." Es ist halb fünf am Nachmittag. "Atmet tief, konzentriert euch auf den Atem!" Das sind ihre letzten Worte bis Sonntag - na ja, nicht ganz, denn zwischendrin macht die 61-Jährige knappe Ansagen. Das klingt dann so: "Setzt euch mit dem Gesicht zur Wand", "schaut zur Mitte", oder "Abendbrot". Die ausgebildete Heilpraktikerin für Psychotherapie bietet seit zwölf Jahren Schweige-Meditationen an, in einem Mix aus christlicher Mystik und dem buddhistischen Zen.

Mit der Schweigsamkeit ist das so eine Sache. Wenn Menschen sich begegnen und es entstehen Gesprächspausen, so empfinden sie die Wortlosigkeit schnell als peinlich. Auch das gegenseitige Anschweigen im Kloster Marienthal wirkt anfangs fremd - wir überspielen das mit einem verlegenen Lächeln. Es dauert jedoch nicht lange, dann verschwindet das leichte Unbehagen, und das Fehlen der Worte wird zur Normalität.

Schweigen, das geht. Anders ist es mit der Stille. Denn das Radio in einem drin, das plappert munter weiter. Es lässt sich nicht so einfach ausschalten. So ergeht es mir gleich bei der ersten Runde sitzen und schweigen. Mit dem Gesicht zur Wand lassen wir uns nieder, damit nichts ablenkt. Fünfzehn Minuten lang bleiben wir so. Ich rücke mich auf dem Sitzbänkchen zurecht. Von draußen dringt kein Laut herein, die Fenster sind geschlossen. Hin und wieder grummelt und gluckert ein Magen, raschelt ein Stück Stoff. Gelenke knacken leise. Dann wird es still.

Gerade noch rechtzeitig fange ich mich ab, um Haaresbreite wäre ich vom Sitzbänkchen gekippt. Vor Müdigkeit. Es ist gar nicht einfach, bei Stille aufmerksam zu bleiben und nicht einzunicken. Eingeschlafen ist mein linker Fuß, und es juckt am Ellenbogen. Die hölzerne Sitzfläche polstert ein Stück Flokati, aber irgendwann schmerzen die Pobacken dennoch. Ich ignoriere alle Körper-Signale so gut es geht. Und starre gegen die weiße Wand. Dort ist nichts. Außer Tapete. Das Herumsitzen und Nichtstun macht auf Dauer ziemlich nervös! Es kribbelt in der Magengegend. Am schlimmsten sind die Gedanken, sie geben keine Ruhe. Umkreisen lauter unerledigte Dinge - und die Frage: Kann man sich selbst überhaupt länger als eine Minute ertragen?

Die Armbanduhr tickt, ein verstohlener Blick aufs Ziffernblatt gibt Gewissheit: Erst sieben Minuten sind vergangen! Da sitzt man also herum, und plötzlich wandelt sich das Zeitempfinden: Die Zeit, der man sonst im Alltag stets hinterher rennt, die gibt es jetzt reichlich und sogar mehr, als einem lieb ist. Fluchtgedanken packen mich: Wie verlockend wäre jetzt eine kleine Wandertour, das Kloster liegt nämlich direkt am Westerwaldsteig - ich müsste nur aufstehen und rausgehen...

Ich harre aus, atme tief ein und zähle lautlos bis zehn. Jeweils eine Zahl beim Ein- und beim Ausatmen. Dann wieder von vorne. Das verscheucht die Gedanken zwar nicht, hält sie aber auf Distanz. Dann endlich, es erklingt ein freundlicher, heller Ton. Christiane berührt mit einem Klöppel die Klangschale. Wir erheben uns langsam. "Klack!", die Meditationslehrerin schlägt zwei kleine längliche Hölzer gegeneinander - das Signal zum Schreiten. Jeder verbeugt sich kurz vor seinem Flokati, und so schreiten wir. Im Gänsemarsch im Kreis herum. Sehr langsam und bedächtig. Es gibt keine Eile mehr. Runde um Runde bewegen wir uns vorwärts. Den Beinen gefällt's, das macht sie wieder locker. "Klack!", die Hölzer schlagen aufeinander, und jeder kehrt zu seinem Platz zurück. Um die nächste Viertelstunde zu schweigen und dann erneut zu schreiten.

Die Abläufe sind klar geregelt. "Das hält den Teilnehmern den Rücken frei, so müssen sie keine Gedanken an die praktischen Dinge verschwenden", erklärt Christiane. "Jeder kann sich ganz auf sich selbst konzentrieren." Auch zum Abendbrot geht's - Klack! - mit Hölzchen. Es gibt Brot, Käse und Wurst. Dazu Kräutertee. Wortlos füllen wir unsere Teller und nehmen an Vierertischen Platz.

Ein Kühlschrank brummt, das Geräusch bohrt sich in unser Schweigen hinein. Theo hält die Teekanne hoch, schaut fragend über den Tisch und füllt zwei Tassen. Ein "Guten Appetit!" liegt mir auf der Zunge, ich spüle es mit einem Schluck Tee hinunter und nicke meinen Tischgenossen freundlich lächelnd zu.

Renate sitzt da mit gesenktem Blick. Andere fixieren das, was auf dem Teller vor ihnen liegt. Wohin soll man auch blicken? Ein Gespräch am Tisch gibt normalerweise Halt, auch für die Augen, aber ohne - ich schaue über alle Köpfe hinweg nach draußen. Das Wetter ist schön.

Den frühen Abend füllt noch eine Sitzmeditation sowie ein paar entspannende Momente bei sanften Klängen des großen Gongs, den Christiane ertönen lässt. Feierabend ist um neun Uhr. Bleibt noch Zeit für einen Spaziergang durch den kleinen Ort, oder ein Besuch der ans Kloster angrenzenden Wallfahrtskirche. Sie heißt "Zur Schmerzhaften Mutter". Doch viel Unternehmungslust scheint keiner aus der Gruppe zu verspüren, die meisten verschwinden in ihr Kämmerlein.

Im Kloster Marienthal leben heute keine Mönche mehr, das ehemalige Franziskanerkloster dient als katholische Seminar- und Tagungsstätte des Erzbistums Köln. Außer ein paar Kruzifixen und der Bibel auf dem Zimmer bleibt die Religion dezent im Hintergrund.

Am nächsten Morgen geht das Schweigen und Sitzen weiter. Ein neuer Anlauf, die Gedanken zu bändigen. Vor dem Frühstück um halb acht, nach dem Frühstück ab halb zehn. Die längste Sitzmeditation dauert zwanzig bis fünfundzwanzig Minuten. Viel länger spielen die Knochen und Gelenke auch nicht mit. Meine Gedanken haben sich zurückgezogen. Mit allen Einkaufs- und Erledigungslisten. Kurze Augenblicke von angenehmem Nichts schieben sich dazwischen. Ruhig, wohlig fühle ich mich, wie in Kokon gehüllt. Ja, das ist es: Einfach nur sein! Es zählt der Augenblick - sonst nichts.

Am Sonntagmittag sitzen wir zusammen und brechen unser Schweigen. Die Stimmung ist gelöst, die Worte sind wieder da und machen Freude. Auch Renate hält den Blick nicht mehr gesenkt, ja, sie redet und scherzt, wirkt völlig aufgekratzt: "Ich habe den Schmerz gespürt und gelitten, jetzt geht es mir einfach besser." Theo, ein erfahrenen Schweiger, selbst ihn haben die Sitzmeditationen gebeutelt: "Das war die reinste Achterbahnfahrt!", seufzt er. "Unruhe, dann wieder schöne Momente, schmerzende Gelenke, plötzlich Zahnschmerzen, die kamen und gingen."

Jeder hat sich mit etwas herumgeschlagen, - und es im wahrsten Sinne des Wortes ausgesessen. Für ein paar Glücksmomente: "Irgendwann saß ich da und atmete nur noch. Das war wunderbar, ich fühlte mich so leicht", erzählt Katrin.

Info: Zu Schweigemeditationen unter www.exerzitien.info. Kurse zum Entspannen und Entschleunigen bei SKR Studien Kontakt Reisen, www.skr.de.