Von Birgit Blawert
Neidenstein. Leise surrt das Schwungrad, dezent klackert die Spule, gleichmäßig untermalen die Pedalen die kaum wahrnehmbare Geräuschkulisse wie das Ticken einer Standuhr. Es wirkt beruhigend, solch ein Spinnrad, an dem Ingrid Seidler gerade sitzt, um aus der Wolle der eigenen Schafe Garn zu spinnen.
Sie, die Bankkauffrau und Immobilienmaklerin, die zudem einen Haushalt managt mit Mann, Kind und Garten, empfindet es genauso. Es ist ihr "Slowdown" von der Hektik des Alltags, vom beruflichen Stress - ein guter Ausgleich, wie sie sagt.
Zum Spinnen ist sie gekommen durch das Hobby ihres Mannes Uwe. Der Schreiner hat die Haltung und Zucht von Ostpreußischen Skudden - einer Hausschafrasse, die auf der Roten Liste der bedrohten Nutztierrassen steht - vor fünf Jahren zu seinem Hobby gemacht. Seine aktuell 16 "Rasenmäher" stellt er in der Brunnenregion zur Landschaftspflege zur Verfügung.
Doch wohin mit der Wolle der Schafe, die einmal im Jahr geschoren werden müssen? Vor rund einem Jahr wurde Ingrid Seidler zur Lösung des Problems durch eine Begegnung inspiriert, die sie auf dem Weihnachtsmarkt in Zuzenhausen machte. Hier faszinierte sie eine Ausstellerin, die zeigte, wie man mit Spinnrädern aus Naturwolle Fäden zaubert. Man kam ins Gespräch, und es stellte sich heraus, dass die im Spinnen bewanderte Seniorin aus Bad Schönborn Kurse in diesem Fachgebiet abhält. Schon im Januar besuchte Ingrid Seidler eines ihrer Nachmittagsseminare - und fing Feuer. Sie wollte das Spinnen lernen. Zu ihrem Geburtstag im Februar schenkte ihr Uwe ein Spinnrad. Und seither ist sie im "Learning by doing"-Modus.
"Der Anfang war schon schwer", gesteht sie ein. "Wenn man solchen Frauen an ihren Spinnrädern zuschaut, wirkt alles so einfach. Aber so ist es nicht." Das Schwungrad in den richtigen rechten Lauf zu bringen, die Bewegung der Pedalen zu koordinieren, den Faden dünn zu halten und nicht abreißen zu lassen, all das fordere viel Übung. Doch mittlerweile läuft’s bei der 45-Jährigen, die ihren neuen Ruhepol am Spinnrad entdeckt hat, wie am Schnürchen. Zwar sei ihr Garn noch einfädig - im Gegensatz zur handelsüblichen Ware, bei der mehrere Fäden verdrillt seien - aber selbst daraus ließe sich ja noch was machen.
Die Rohwolle - sie zu waschen und kardieren, sprich: zu kämmen - überlässt Ingrid Seidler einem Fachbetrieb. Was bei ihr ankommt, ist fluffige, naturbelassene Wolle ihrer Skudden, die sich - mal schwarz oder grau, mal braun oder wollweiß - langhaarig und glatt ganz gut eindröseln lässt auf die Spule. Rund fünf bis zehn Kilo des gut doppelt so viel anfallenden Schafsvlieses verarbeitet sie zu Strickgarn, woraus wiederum vorwiegend Socken für ihren Mann oder Sparstrümpfe zum Verschenken entstehen. Der andere, größere Teil der "geernteten" Wolle wandert - da sich der Verkauf nicht lohnt, es gibt gerade mal 25 Cent pro Kilo - in die Erde: In Hochbeet und Blumenkästen leistet sie hervorragende Arbeit als Langzeitdünger.
Bleibt die Frage: Womit hat sich eigentlich in dem Märchen "Dornröschen" die Prinzessin in den hundertjährigen Schlaf gebracht? Angeblich hat sie sich am Spinnrad mit einer vergifteten Spindel in den Finger gestochen. Ingrid Seidler kann an ihrer Spindel nichts Gefährliches entdecken. Ist wohl alles nur ein Mythos - genau wie der, dass Spinnen so einfach sei …