Auf Krücken abgestützt, kickt Marcel Herrmann mit dem rechten Bein. Foto: Döring
Von Andrea Döring
Speyer/Sinsheim. "Warum gucken die Leute dahin, da ist doch nichts", witzelt Marcel Herrmann mit viel Selbstironie über sein fehlendes linkes Bein. Auf schwarzen Krücken abgestützt, kickt er mit dem rechten den Ball auf dem Sportplatz der Integrierten Gesamtschule Georg Friedrich Kolb Speyer. Und weil es der 28-Jährige echt drauf hat, spielt er in der Nationalmannschaft des deutschen Amputiertenfußballs.
"Anpfiff Hoffenheim" heißt der Verein, in dem er trainiert. Einmal im Monat kommen amputierte Spieler aus ganz Deutschland für ein Wochenende in den Sinsheimer Stadtteil, um gemeinsam für die nächste Europameisterschaft zu üben. Wegen der Corona-Krise fiel sie dieses Jahr aus. Gemeinsames Ziel der Kicker aus aller Welt ist, dass Amputiertenfußball paralympisch wird.
Was denn mit seinem Bein passiert sei, fragen Schüler und Lehrer, die Marcel Herrmann auf dem Weg zum Sportplatz begegnen. Geduldig erklärt er mehrfach in kurzer Zeit, dass er das Bein bei einem Motorradunfall verloren hat. Erinnern kann er sich daran nicht. Herrmann geht aber sehr offen mit seinem Handicap um.
Ein ihm unbekannter Passant, der mit seinem Hund Gassi geht, eröffnet das Gespräch mit: "Das mit deinem Bein tut mir aber leid." "Alles gut!", antwortet Herrmann, der jünger aussieht, als er ist. Der Unfall, der ihm 2014 mit 22 zustieß, veränderte sein Leben auch positiv. Nach der Mittleren Reife an der Speyerer Schule lernte er Fahrzeugbaumechaniker bei Daimler in Wörth. Der Betrieb übernahm ihn. An diesem Arbeitsplatz würde er wohl immer noch arbeiten. Bei der notwendigen Umschulung – er wurde Maschinentechniker – erwarb er die Fachhochschulreife.
Jetzt studiert Herrmann, unbezahlt freigestellt, in Kaiserslautern Wirtschaftsingenieurwesen. Das Praxissemester vor den Abschlussprüfungen absolviert er bei Daimler. Im März, mit der Bachelor-Urkunde in der Hand, hofft er auf eine interessante Stelle. Fußball spielen will er weiter bei "Anpfiff" wie schon lange vor dem Unfall beim FV Dudenhofen und FV Heiligenstein.
Beim Amputiertenfußball, den es in Deutschland erst seit 2009 gibt, sind die Abmessungen und die Regeln etwas anders. Sechs Feldspieler, Männer und Frauen, die beliebig oft ausgewechselt werden können, kicken 25 Minuten pro Halbzeit auf einem Feld, das nur 21 mal 31 Meter misst. Auch die Tore messen nur zwei mal drei Meter.
Rund 30 Frauen und Männer trainieren aktuell bundesweit in Braunschweig, Hoffenheim und Ludwigsburg. Im Tor steht ein Armamputierter, die Spieler sind beinamputiert. "Die Krücken einzusetzen ist wie eine Hand", erklärt Herrmann. Es gibt kein Abseits. Im Abseits steht Herrmann weder beruflich noch privat. Seine Partnerin, mit der er schon vor dem Unfall zusammen war, hielt zu ihm, genau wie seine Freunde und die Familie.
Aus den Berichten weiß er, dass er bei dem Unglück mit 70 km/h in einer leichten Rechtskurve aus unbekannter Ursache in den Gegenverkehr geriet. Schwer verletzt entging er nur knapp dem Tod. "Nach dem Aufwachen aus dem künstlichen Koma hatte ich erst einmal andere Probleme. Da denkt man nicht an Fußball", erinnert er sich. Zwei Jahre später traf er am Mannheimer Hauptbahnhof zufällig ein beinamputiertes Mädchen mit vielen Volleybällen. Sie erzählte ihm von "Anpfiff Hockenheim". Der Verein fördert nicht nur Amputiertenfußball, sondern auch Sitzvolleyball oder Sprinten mit Lauffedern.
Herrmann ist wichtig, den Verein bekannter und Amputiertenfußball populärer zu machen. "In der Türkei sind wir bei der EM 2017 wie Profispieler mit dem Bus in ein riesiges, vollbesetztes Stadion gefahren worden", erzählt er. Dort und in England gibt es bereits organisierte Ligen. Immerhin vertritt die Nationalmannschaft Deutschland bei internationalen Turnieren. Bei der letzten WM 2014 in Mexiko erreichte sie den 13. Platz. Weltmeister wurde Russland. Auch in Polen gebe es viel mehr Amputiertenfußballer. Diese würden wie Helden gefeiert.
Feiern kann Herrmann aber auch so. "Wenn ich in der Disco lange durchhalten will, nehme ich die Krücken", erzählt er. Er hat auch eine Prothese. Doch weil er am oberen Drittel des Oberschenkels amputiert ist, drückt sie relativ schnell. "Ich hopse dann auf der Tanzfläche herum. Mit den Blicken und den Kommentaren gehe ich offen um, dann kommt auch viel Gutes zurück", sagt Herrmann. Für die Zukunft hat er viele Pläne. Zusammen mit seiner Freundin sucht er in Speyer eine Mietwohnung, am besten barrierefrei. Und natürlich träumt er von der Teilnahme bei einer EM – oder gar den Paralympics.