Nach übereinstimmenden Schätzungen versammelten sich am Sonntag rund 300 Bürger am Mahnmal im Stadtpark. Foto: Dorn
Von Günther Grosch
Weinheim. Trauer um die ermordeten Menschen von Hanau. Wut, Anteilnahme und Entsetzen, zugleich aber auch Zusammenhalt gegen jegliche Art von Rechtsextremismus und Rassismus kennzeichneten am frühen Sonntagabend die Mahnwache des Bündnisses "Weinheim bleibt bunt".
Schätzungsweise mehr als 300 Menschen aus der Stadtgesellschaft, Weinheims Oberbürgermeister Manuel Just und Mannheims Polizeipräsident Andreas Stenger hatten sich am Sonntag mit Plakaten und Transparenten am Mahnmal für die Opfer von Vertreibung, Krieg und Gewalt im Stadtpark eingefunden, um ihre Abscheu gegenüber der ungeheuerlichen Tat sowie ihre Solidarität und ihr Mitgefühl mit den Angehörigen der Opfer auszudrücken.
"Es zieht sich eine Blutspur rechten Terrors durch unser Land", machte als Gastredner der Theologe Manfred Forell aus Bensheim von der "Initiative gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit im Kreis Bergstraße" deutlich. Diese Blutspur reiche von den Morden des NSU über den Mord an Walter Lübcke und den Anschlag auf die Synagoge in Halle bis hin zu den Toten in Hanau.
Damit ihre Saat aufgehen könne, zielten Populisten auf die Spaltung der Gesellschaft, so Forell. Ihre Mittel seien Ausgrenzung, Diskriminierung und Hass. Hinzu geselle sich eine Verrohung der Sprache. Worte könnten wie Gift und Drogen wirken, wenn sie im "Echoraum der eigenen Vorurteile", den sogenannten sozialen Netzwerken, immer wieder auftauchen und so zur Selbstverständlichkeit werden.
Gastredner Manfred Forell (am Mikro) und die Köpfe von „Weinheim bleibt bunt“: Dirk Ahlheim, Uli Sckerl, Monika Springer, Stella Kirgiane-Efremidou und OB Manuel Just (v.l.). Foto: DornWeghören, Dulden, Akzeptieren, Mittun und Aktivwerden stellten keine grundlegend verschiedenen Verhaltensweisen dar: "Sie sind Stadien auf dem Weg zur moralischen Selbstaufgabe!", warnte Forell. Darüber hinaus gelte es, das ausgrenzende Gerede vom "Migrationshintergrund", dem "Würgegriff der Entheimatung" zu unterlassen. Wenn jemand seit Jahrzehnten in Deutschland lebt oder hier geboren wurde, dann sei er kein Fremder und kein Ausländer mehr. Er gehöre als selbstverständlicher Teil dieser Gesellschaft hierher.
Man sei es nicht nur den Mordopfern von Hanau schuldig, den Satz von Angela Merkel "Wir schaffen das!" mit neuem Leben zu erfüllen: Die Spaltung der Gesellschaft zu überwinden, indem jeder Einzelne ohne Ausgrenzung, Diskriminierung und Hass auf die muslimischen Gemeinden und deren Angehörige zugeht. "Zeigen wir Haltung im Alltag. Treten wir dem geistigen Klimawandel entschieden entgegen und für Weltoffenheit und die Würde eines Menschen ein", lautete Forells Appell.
"Wir müssen noch entschiedener unser Land, unsere Demokratie und unsere weltoffene Gesellschaft gegen einen aufziehenden neuen Faschismus verteidigen", redete Landtagsabgeordneter Uli Sckerl als Sprecher des Bündnisses "Weinheim bleibt bunt" Klartext. Lange hätten sich Rechtsextremisten und Terroristen nur in ihren Kreisen über ihre wahnwitzigen Ideen ausgetauscht und sich im Internet gegenseitig aufgehetzt. Jetzt aber schreiten sie zur Tat.
Die Antwort auf die Frage, "Warum jetzt?" und die Häufung der Taten seien beunruhigend. Die Leute schlügen zu, weil sie sich akzeptiert fühlen. Völkisches Gedankengut sickere immer tiefer in die Gesellschaft ein.
"Dieses Gedankengut scheint auf dem Weg zur Gesellschaftsfähigkeit", so Sckerl mit Verweis darauf, wie faschistische Reden plötzlich auch in den Parlamenten geschwungen werden und die nationalsozialistische Schreckensherrschaft mit ihren Millionen Toten nur noch ein "Vogelschiss" der deutschen Geschichte gewesen sein soll. Der Anschlag von Hanau sei deshalb auch ein Anschlag auf die weltoffene Stadtgesellschaft in Weinheim.
Die Gesellschaft könne mit Recht erwarten, dass die Polizei und Sicherheitsbehörden noch entschlossener vorgehen und die gefährlichen rechtsextremistischen und terroristischen Strukturen zerschlagen, so Sckerl. In diesem Zusammenhang müsse auch das Waffenrecht auf den Prüfstand gestellt werden. Darüber hinaus müsse aber auch jeder Einzelne selbst zu mehr Engagement und Zivilcourage bereit sein. Wo Rassismus verbreitet und von einer "Umvolkung" gesprochen werde, gelte es einzugreifen, die Verantwortlichen zu entlarven und das unwürdige Geschehen zu unterbinden, so Sckerl.
Auch Stella Kirgiane-Efremidou, Sprecherin des Runden Tisches Integration in Weinheim, forderte in ihrer "Fassungslosigkeit über das Geschehen" die Politik auf, Hass und Hetze endlich mit aller Härte zu bestrafen. Drohungen, welche bis in die jüngsten Tage auch die Mitglieder von "Weinheim bleibt bunt", Angehörige der Mevlana-Moschee und Kommunalpolitiker erhalten haben, müssten mit aller Vehemenz geahndet werden. Sie verspüre Wut und Ohnmacht in sich, dass man als Mensch mit Migrationshintergrund nicht mehr sicher sein kann.
Fast auf den Tag genau 77 Jahre nach der Verhaftung der Mitglieder der Widerstandsgruppe "Weißen Rose" durch die Nationalsozialisten zitierte Kirgiane-Efremidou die 1943 ermordeten Geschwister Hans und Sophie Scholl: "Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit, den Ihr um Euer Herz gelegt habt. Entscheidet Euch, ehe es zu spät ist."