"Antwort auf graue Wände"
Graffiti heißt heute "Urban Art" und ist heiß begehrt. In Heidelberg startet am heutigen Samstag die dritte Runde des MetropolInk-Festivals.

Von Alexander R. Wenisch
Sie kamen in der Nacht. Schlichen sich auf Bahngleisen herum, in Eisenbahndepots, an Brücken. Besprühten Häuser, Wände, Bahnen mit wilden, kaum verständlichen Farbcodes. "Kunst" war das in den Augen vieler Anwohner nicht, sondern Vandalismus. In den 70er und 80er Jahren war Graffiti Teil des Undergrounds. Erst als Gegenkultur in amerikanischen Vorstädten, bald auch in Europa. Die Sprayer im Dunkeln gibt es heute noch, aber es gibt mittlerweile auch Künstler an der Dose, die enormes Geld verdienen: Urban Art heißt das dann - also Kunst im städtischen Raum.
"Graffiti war schon immer die Antwort auf graue Wände", sagt einer, der in der Heidelberger Szene tief verwurzelt ist: Martin Stieber. Einst mit seinem Zwillingsbruder Christian als "Stieber Twins" Wegbereiter des deutschsprachigen HipHop, betreibt der 44-Jährige heute in den Heidelberger Altstadt einen Laden für Streetwear, in dem man auch Farbdosen kaufen kann. Doch anders als in den Anfangsjahren schmücken sich die Städte heute mit den modernen Häusergemälden. Festivals in London, Stockholm oder Kopenhagen haben die einst umstrittene Kunst etabliert. Galerien zeigen Street Art und Stars wie Bansky haben es geschickt verstanden, sich als Mythos und Marke zu vermarkten. Kaum einer kennt den Briten, aber seine spektakulären, oft politischen Gemälde sind weltbekannt und kosten Millionen.
Hintergrund
Auch die dritte Auflage des MetopolInk-Festivals in Heidelberg verspricht spannende Kunstmomente. Und das Tolle: Man kann als Zuschauer einfach vorbeikommen und den Künstler live an der Wand erleben.
■ Zwei fertige Kunstwerke gibt es schon zu sehen. Im
Auch die dritte Auflage des MetopolInk-Festivals in Heidelberg verspricht spannende Kunstmomente. Und das Tolle: Man kann als Zuschauer einfach vorbeikommen und den Künstler live an der Wand erleben.
■ Zwei fertige Kunstwerke gibt es schon zu sehen. Im Bismarckpark steht die Holzskulptur des Duos "Quintessenz". Und heute Abend (24. Juni, 19 Uhr) wird am ehemaligen Bordell in der Max-Jarecki-Straße in Heidelberg eine Wand eröffnet, gestaltet vom spanischen Künstler Limow, der in Heidelberg lebt. Er wird auch vom 1. bis 7. Juli in der Ernst-Barlach-Str. in St. Leon-Rot live sprayen. Vernissage ist am 7. Juli um 19 Uhr.
■ Die beiden Künstler Case (aus Frankfurt) und wow123 (Bremen) sprayen vom 25. Juni bis 1. Juli in der Ringstraße Heidelberg (an der Total-Tankstelle). Vernissage ist am 15. Juli um 19 Uhr.
■ In der Karlsruher Straße 31 werden Sweetuno (Heidelberg) und Formula76 (Hamburg) vom 27. Juni bis 01. Juli eine Hauswand sprayen. Vernissage ist am 1. Juli um 19 Uhr.
■ Der Heidelberger Künstler Daniel Thouw wird vom 5. bis 10. Juli in Walldorf eine Wand gestalten (Ecke Bahnhofstraße/Schulstraße). Vernissage ist am 10. Juli um 19 Uhr.
■ Am "Hotel Central" (Kaiserstraße 75) wird Klone aus Tel Aviv arbeiten. Vernissage ist am 15. Juli um 19 Uhr.
Bansky hatte Pascal Baumgärtner noch nicht an der Angel für Heidelberg. Aber dennoch gelang es dem Impresario des MetropolInk-Festivals in den vergangenen Jahren, internationale Stars der Szene - Herakut, 1010, Pau oder Hendrik Beikirch - an den Neckar zu holen. Stieber attestiert Baumgärtner ein "gutes Händchen" bei der Auswahl der Künstler und lobt die "durchweg hochwertigen Arbeiten", die in den vergangenen Jahren entstanden sind. An diesem Wochenende startet nun die dritte Auflage des Kunstevents, bei dem in der Stadt, aber auch in der Region, elf Wände aufgewertet werden. Die spektakulärste Aktion dürfte sich in der Ringstraße abspielen, wo die Sprayer Case und Wow123 eine 500 Quadratmeter große Hausfront bemalen werden.
Mit spontanen Kunstaktionen hatte Baumgärtner vor Jahren angefangen: Leer stehende Gebäude, ehemalige Möbel- und Ladengeschäfte, eine alte Gärtnerei wurden kurzfristig zu öffentlichen Ateliers. Als 2014 die Künstler Matt Adnate und Eric Mangen einen Rohbau in der Bahnhofstraße mit fotorealistischen Wandgemälden gestalteten, war das aufsehenerregend. Und neu für Heidelberg. Baumgärtner will "Freiraum schaffen für Künstler" und "mehr Verständnis dafür, was Kunst kann".
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Aber was kann und will Urban Art - außer graue Wände färben? Viele Künstler fühlen sich dem Dadaismus nahe. Die Motive folgen keinem bestimmten Schema. Mal werden grafische Muster mit Klebeband vorbereitet und ausgemalt, mal mythische, märchenhafte oder ethnografische Motive gestaltet. Imposant sind oft die fotorealistischen, meterhohen Werke oder perspektivischen Verzerrungen. Oft wird auf abbruchreifen Gebäuden gesprayt. Das macht die Kunst zu etwas Temporärem; das Situative, das Werden und Wieder-Zerstören ist also kreative Basis der Street Art.
Und da die Kunst in der Öffentlichkeit stattfindet, bringt das Bürger mit ihr in Kontakt, die sonst nie einen Fuß in ein Museum setzen würden. Heidelbergs Oberbürgermeister Eckart Würzner - Schirmherr des Festivals - lobt: "Die Urban Art-Projekte setzen neue Akzente im Stadtbild. Das bietet Heidelbergern, aber auch unseren Gästen aus aller Welt, neue Perspektiven und Ansichten." Oder wie es Martin Stieber ausdrückt: "Der puppenhaft-verschachtelten Altstadt wird etwas Großstädtisches entgegen gestellt."
Der größte Charme des Festivals ist: Man kann einfach hingehen und dem Künstler über die Schulter schauen. So wie kürzlich auf dem Campus der SAP in Walldorf. Dort produzierte Zest, einer der aktuellen Stars der Szene, ein vielschichtiges Gemälde, indem er aus mehreren übereinanderliegenden Leinwänden mit dem Teppichmesser Muster herausschnitt. Der heute 37-Jährige, der eigentlich Franck Noto heißt, hat 1995 mit 15 in Montpellier als Graffiti-Sprayer angefangen. Im Rahmen des MetropolInk-Festivals gestaltet er zwei Wände - eine im Mark Twain Village, eine bei den Stadtwerken. Wann diese zu sehen sein werden, ist noch nicht klar.

Star der Szene: Franck Noto alias Zest aus Heidelbergs französischer Partnerstadt Montpellier. Foto: lex
Zest, du bist einer der Stars der Szene. Wie fühlt sich das an?
Ich bin kein Star. Ich habe nur das Bedürfnis, etwas zu schaffen. Ich gehe jeden Tag in mein Atelier und mache Sachen, die nicht ganz langweilig sein sollen.
Woher nimmst du Deine Inspiration?
Ich mache jetzt seit 20 Jahren Graffiti. Da komm’ ich her. Im Atelier versuche ich, die Erlebnisse von der Straße künstlerisch zu verarbeiten. Mit der Sprühdose am Bahngleis oder an einer Brücke zu arbeiten ist natürlich nicht das Gleiche, wie in einem Raum. Da ist der kreative Prozess synthetischer, aber auch konzentrierter.
Als du 1995 mit dem Sprayen angefangen hast, war das nicht Kunst, sondern illegal. Wie oft bist du mit der Polizei in Konflikt geraten?
Das war normal und das hat mir natürlich auch gefallen. Da war etwas verboten, also haben wir es gemacht. Das war wie ein Spiel. Und es gab einfach so viele hässliche, betonfarbene Hauswände in der Stadt. Die mussten einfach bemalt werden. Heute ist Street Art die neue Kunst, die jeder haben will. Und ich werde sogar dafür bezahlt und zu großen Vernissagen eingeladen (schmunzelt). Das ist schon irgendwie verrückt.
Wie lange haben deine Eltern damals gebraucht, bis sie mitbekamen, dass du illegal sprayst?
Die haben das sofort gemerkt. Es gab ja auch ziemlich schnell Probleme mit der Polizei (lacht). Aber sie haben mich machen lassen. Sie haben mich zwar nicht unbedingt ermutigt, haben mich aber auch nicht am Sprayen gehindert. Das wäre ihnen ja ohnehin nicht gelungen.
Warst du als Jugendlicher ein Rebell?
Nein, ich war kein Rebell. Alles, was ich wollte, war mit Farbe Wände anmalen. Und ich wollte meinen Namen Zest überall lesen.
Graffiti haben oft auch einen gesellschaftskritischen Ansatz. Woran übst du mit deiner Kunst Kritik?
Bei den illegalen Tags im öffentlichen Raum stimmt das meist - die wollen stören, kritisieren. Meine jetzige Atelierkunst hat keine politische Botschaft. Es sind Versuche, meine eigene Stimmung kreativ umzusetzen. Die ist mal positiv, mal negativ. Entsprechend fallen auch die Ergebnisse mal bunter, mal düsterer aus.
Wäre es eine Option für dich gewesen, Kunst oder Grafikdesign zu studieren?
Nein (lacht). Da wird man in Schubladen gesteckt, Kreativität wird in Formate gepresst. Das will ich für mich nicht.