"Women"

Für Esther Abrami ist klassische Musik keine Männersache

Mit ihrer Geige erzählt Esther Abrami Geschichten von mutigen Frauen, die sich nicht mit dem Status quo abfinden wollten

15.05.2025 UPDATE: 15.05.2025 04:00 Uhr 3 Minuten, 20 Sekunden

Von Steffen Rüth

Esther Abrami gilt als Ausnahmeviolinistin. Auf ihrem neuen Album "Women" bringt sie ein Wesen zum Vorschein, von dem Männer jahrhundertelang nicht wussten, dass es überhaupt existiert: die komponierende Frau. Steffen Rüth unterhielt sich mit der Geigerin, die aus der Provence stammt, die meiste Zeit des Jahres aber in Manchester verbringt, per Videotelefonat. Dabei ging es um Clara Schumann, Miley Cyrus und Esther Abramis eigene Großmutter.

Esther, du hast die Violine am Konservatorium deiner Heimatstadt Aix-en-Provence, an der Chetham’s School of Musik in Manchester, dem Londoner Royal College of Music und dem Birmingham Conservatoire studiert. Wie viele klassische Komponistinnen sind dir in dieser Zeit im Unterricht begegnet?

Esther Abrami: In den 15 Jahren, in denen ich mein Handwerk an einigen der renommiertesten Institute in Europa lernte: exakt eine einzige. Clara Schumann. Und wer weiß, wie viel ihr berühmter Nachname daran schuld war. Tatsache ist trotzdem: Klassische Musik ist keine Männersache. Auch wenn man häufig diesen Eindruck bekommt.

Ein Eindruck, mit dem du jetzt aufräumen willst.

So ist es. Mein Album "Women" ist zu 100 Prozent eine Verbeugung vor all den fantastischen Frauen, die über die Jahrhunderte und sämtliche Landesgrenzen hinweg außergewöhnliche Musik geschaffen haben. Ich bin überglücklich, diese und noch viel mehr Stücke von tollen Frauen gefunden zu haben und die Lebensgeschichten dieser Künstlerinnen mit meinem Publikum zu teilen. Gerade für junge Frauen, die Klassik lieben, ist es superwichtig, dass sie Vorbilder haben. Und nicht denken: "Wenn ich kein Mann bin, wird das eh nichts mit der Musik."

Wer war denn dein erstes weibliches Idol?

Meine Oma. Das Stück "Transmission", das ich selbst geschrieben habe, widme ich ihr. Großmutter hat ihre Geigerinnen-Karriere als junge Frau aufgegeben, um zu heiraten und Kinder zu bekommen. Sie litt sehr unter dieser Entscheidung, die allerdings typisch war für ihre Generation. Die Frauen mussten zurückstecken, die Männer nie.

Wie hast du die nicht immer besonders bekannten Komponistinnen gefunden, deren Stücke du auf "Women" interpretierst?

Vor einigen Jahren habe ich mit dem Londoner "Her Ensemble", das ausschließlich aus Streicherinnen besteht, die EP "Spotlight" aufgenommen. Die Ensemble-Gründerin Ellie Consta und ich sind sehr gut befreundet, und wir unterhielten uns viel über Komponistinnen. Das öffnete die Türen für dieses Projekt. Ich las und las und las und wurde zu einer Forscherin im Netz und in Bibliotheken. Zum Schluss hatte ich so viele großartige Frauen zusammen, dass es schwer wurde, eine Auswahl zu treffen. Und ich verliebte mich in die tollen Stücke, die sie geschrieben hatten, in ihre Geschichten, ja, in diese Frauen als solche. Zum Teil war es sehr schwierig, an Aufnahmen zu kommen, in manchen Fällen hatte ich nur die Notenblätter und musste die Stücke neu arrangieren. Das war knifflig, hat aber irre viel Spaß gemacht.

Wie bist du auf "Wiegala" der jüdischen Komponistin Ilse Weber gestoßen, die im KZ Theresienstadt als Kinderkrankenschwester arbeiten musste und freiwillig eine Gruppe von Kindern nach Auschwitz begleitete, wo sie 1944 ermordet wurde?

Durch meine Freundin Ellie. Gerade auch wegen meines eigenen jüdischen Hintergrunds hat mich Ilse Webers tragische wie aufopferungsvolle Geschichte sehr berührt. Mir ist es sehr wichtig, sie zu erzählen. Ich finde, jemand sollte endlich einen Film aus Ilses Leben machen.

Von der Mitte des 19. Jahrhunderts in Brasilien geborenen Chiquinha Gonzaga hast du gleich zwei Stücke – "Corta Jaca" und "Lua Branca" – ausgesucht. Wer war sie?

Chiquinha war die erste Frau in Brasilien, die ein Orchester dirigierte. Übrigens noch so ein Punkt: Dirigentinnen. Es gibt viel zu wenige. Auch deshalb habe ich "Women" mit dem ORF Radio-Symphonieorchester Wien aufgenommen, das von der famosen Irene Delgado-Jiménez geleitet wird. Chiquinha jedenfalls wurde vom Vater gezwungen, zu heiraten. Ihr Mann war sehr eifersüchtig und meinte: "entweder das Klavier oder ich". Sie wusste aber, dass sie kein Leben ohne Melodien führen kann, und ließ sich scheiden. Zu der Zeit war das ein Riesenskandal.

Zum Glück ist das lange her.

Einerseits. Andererseits: Ich hatte schon Beziehungen zu Männern, die mich fragten, ob ich denn immer so viel üben müsse. Für mich ist es hart, einen Partner zu finden, der mein Leben und meine Karriere akzeptiert.

Du interpretierst das 900 Jahre alte Lied "O Virtus Sapientiae" von Hildegard von Bingen, aber auch "Flowers" von Miley Cyrus.

Beide haben mehr gemeinsam, als man denkt. Sowohl Miley als auch Hildegard sind zu ihrer Zeit Pop. Hildegard sprach damals so ziemlich als erste über weibliche Lust und Themen wie Menstruation. Sie war eine absolut bahnbrechende Frau. Und Miley ist einfach geil. Ich habe vor zwei Jahren sehr laut bei "Flowers" mitgesungen, das war frisch nach meiner Trennung (lacht).

Feminismus und Gleichberechtigung sollten heute ja eigentlich nicht mehr infrage gestellt werden. Aber wie sind deine Erfahrungen mit diesen Themen innerhalb der klassischen Musikbranche?

Vordergründig ist es besser geworden – logisch. Niemand würde heute mehr offen jemanden bevorzugen, weil diese Person ein Mann ist. Und trotz aller Umtriebe von Leuten wie Donald Trump glaube ich nicht, dass wir uns gesellschaftlich zurückentwickeln werden. Frauen lassen sich nicht mehr kleinhalten. Aber auf subtiler Ebene geht es immer noch nicht wirklich fair zu. Ich lese zum Beispiel tagtäglich im Netz Kommentare über mein Aussehen oder meinen Style. Einen Mann würde man mit solchen Oberflächlichkeiten ganz bestimmt nicht belästigen.

Info: "Women" ist aktuell erhältlich. Esther Abramis Album umfasst 16 Stücke und 60 Minuten Spielzeit.