"Servus Minga"

Rolling Stones verwandelten Olympiastadion in Hexenkessel

Die Stones drehten in München zweieinviertel Stunden auf. Es war grandios. Es war perfekt.

06.06.2022 UPDATE: 06.06.2022 18:41 Uhr 3 Minuten, 45 Sekunden
78? Das ist doch kein Grund, die Rock’n’Roll-Bühne zu verlassen! Sänger Mick Jagger von den Rolling Stones am Pfingstsonntag im Münchner Olympiastadion. Im Rahmen ihrer Sixty-Europatour hat die britische Band nur zwei Auftritte in Deutschland eingeplant, der nächste folgt am 27. Juli in Gelsenkirchen. Foto: Sven Hoppe

Von Klaus Welzel

München. Es gibt Zufälle, die sind zu schön, um wahr zu sein. Aus ihnen entwickelt sich unter Umständen Großes. Ganz Großes. Da schlendert der 17-jährige Mick Jagger im Oktober 1961 über den Bahnhof von Dartford in Kent, trägt ein paar Schallplatten des US-amerikanischen Bluesgitarristen Muddy Waters unter dem Arm. Trifft den gleichaltrigen Keith Richards, den er aus der Grundschulzeit kennt.

Ein kurzes Gespräch. Die Züge kommen. Man verabredet sich noch schnell zum Schallplattenhören. Und ein paar Monate später werden die Rollin’ Stones aus der Taufe gehoben. Eine kluge Entscheidung. Dem Zufall geschuldet, dass da zwei Bluesfans aufeinandertreffen, in einer Zeit, als Muddy Waters für die meisten Briten noch ein Exot war.

60 Jahre später stehen die beiden Herren, diese unglaublich coolen Typen, diese Unverwüstlichen, diese Teufelskerle, die alle Drogen und auch erschreckend viele Weggefährten überlebt haben, auf der Bühne des Münchner Olympiastadions. Es ist grandios. Es ist perfekt.

Doch einer fehlt. Einer dieser "Street Fighting Man". Das ist der Song, mit dem die Band das zweieinviertelstündige Konzert eröffnet. "Wir vermissen ihn sehr", sagt Jagger den zehntausenden Fans. Charlie Watts, Fast-Gründungsmitglied der Stones, der im vergangenen Jahr im Alter von 81 Jahren gestorben ist.

Und bevor die Band die effektivste Rock’n’Roll-Maschine der Welt anwirft, sind auf den gigantischen Videoscreens alte Bilder und Filme des Gentleman-Rockers Watts zu sehen. Sehr berührend. Gänseschauer auf der Haut.

Dass Watts starb, ist insofern überraschend, dass Richards und Jagger die "richtig bösen Jungs" waren, immer ein Leben auf der Überholspur führten, dass das "Küken" der Band, Ron Wood (75), viel mehr trank, als alle anderen Bandmitglieder zusammen, dass Watts, der verlässlich im Anzug auftrat, die Antipoden Jagger und Richards immer wieder zusammenführte. Ohne ihn, so die allgemeine Erwartung, könnten die Stones nicht länger existieren.

Können sie aber doch. Nicht, dass der neue Drummer, Steve Jordan, Watts’ vom Jazz geprägtes, komplexes Spiel ersetzen könnte. Natürlich nicht. Aber das Trio Jagger, Richards, Wood funktioniert auch als solches. Und man muss sagen: perfekt. München erlebte am Pfingstsonntag eines der besten Stones-Konzerte ever.

Kein Wunder, bei der fast schon romantischen Beziehung der Stones zur bayrischen Hauptstadt. Hier trafen Jagger und Richards ihre Geliebte, Uschi Obermaier, hier sind sie im "Vier Jahreszeiten" Stammgäste.

Und Jagger erzählt auf Deutsch, dass er am Samstag bei "Bikiniwetter" im Englischen Garten ein Bier getrunken hat. So cool. Und gemütlich. Denn die Stones haben eine sehr freundliche, eine dem Publikum zugewandte Seite. Sie umgarnen es regelrecht. "Servus Minga. Ihr seid das beste Publikum der Welt."

In der ersten Hälfte des Abends gibt es ausschließlich Songs aus den 60ern zu hören. "19th Nervous Breakdown", eine zappelige Nummer, in der Jagger einen Drogentrip verarbeitet, der seine damalige Freundin Chrissie Shrimpton mehr oder minder den Verstand kostete – ihr widmete er auch das wenig charmante "Under My Thumb", das in München jedoch nicht zu hören ist. Stattdessen zum zweiten Mal überhaupt live: "Out Of Time". In Madrid, der ersten Station der Europa-Tournee, feierte der Song 56 Jahre nach seiner Entstehung Bühnenpremiere. Am Fuß der Alpen wird er frenetisch gefeiert.

Dann die Lockdown-Hymne "Living In A Ghost Town", die anfänglich wie ein Fremdkörper in diesem Rock’n’Roll-Feuerwerk wirkt, sich dann aber zu einer mitreißenden Nummer entwickelt, im Schatten des Fernsehturms, den die Stadt in den Farben der ukrainischen Nationalflagge anstrahlt. Überhaupt der Krieg.

In der ersten Zugabe endet "Gimme Shelter" mit Szenen aus der verheerten Ukraine. Kein Schutz. Wenig Hoffnung. Dafür ein Duett zwischen Jagger und Sasha Allen, bei dem zwei Ebenbürtige gegeneinander ansingen. Sehr frontal. Sehr direkt stehen sie auf dem Bühnensteg, der zig Meter ins Publikum hineinführt. Schreien. Und gehen zu den Schreckensszenen auf der Videowand Hand in Hand wieder in Richtung Hauptbühne.

Das war’s. Hätte es sein können. War es aber nicht. Es kommt noch besser. "Satisfaction" bildet nicht nur den Schluss-, sondern auch den Höhepunkt dieses grandiosen Rockabends, der nur eine Frage unbeantwortet lässt: Wie machen die das? Wie kann ein 78-jähriger Sänger Song für Song über die Bühne sprinten, singen, hüpfen? Scherzen?

Gut, anfangs kommt auch Mick Jagger mal aus der Puste. Aber der Sohn eines Sportlehrers findet schnell seinen Rhythmus. Und beeindruckt vor allem deshalb mit seinen Bühnenkostümen, weil er darin die beste aller vorstellbaren Figuren macht.

Und Keith Richards, ebenfalls 78, hat zwar an Reife gewonnen, zugleich aber wirkt sein Gitarrenspiel so leicht wie noch nie. Zusammen mit Co-Gitarrist Ron Wood bildet er eine Bühneneinheit, lässt bei seinen zwei Solo-Songs auch endlich einmal das "It’s good to be here, it’s good to be anywhere" weg und versöhnt sich per Faustgruß mit seinem ewigen Kontrahenten Jagger demonstrativ, während der "Midnight Rambler" sein Unwesen treibt.

Noch ein Wort zu Derryl Jones, dem heimlichen Stone, dessen Stunde verlässlich schlägt, sobald "Miss You" erklingt. Noch so ein Meilenstein an diesem Abend, der ja unwetterbedingt beinahe ins Wasser gefallen wäre. Jones gestaltet seine Solo-Passage immer wieder neu. In München klingt "Miss You" eher nach L.A. als nach New York (wo es handelt).

Ein klarer, drückender Takt, nach vorne drängend. Und Jagger ruft "Munich. It’s Your Time". Es geht los. Nach knapp zehn beglückenden Minuten schmerzen die Arme, die Hände sind rot geklatscht.

Draußen, vor dem Stadion schnippen, singen und lachen die Fans noch lange nach dem Konzert, summen die Refrains. Selbst am nächsten Morgen erklingt auf dem Hotel-Parkplatz ein heiserer Chorgesang. Und so gesellt sich zu der Frage "Wie machen die das?" die nächste Frage: "Wie lange noch?" Schließlich hat Ron Wood vor Kurzem gesagt, es sei die letzte Tournee.

Nun gut, das sagen sie schon immer. Vermutlich schon damals bei dem ersten Gig in London, als sie am 12. Juli 1962 den Pausenfüller für Alexis Korner Blues Incorporated machten. Vor 100 Zuschauern. Was für ein schöner Zufall, dass daraus die beste Rock’n’Roll-Story dieses Planeten wurde.

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