"Erste Staffel: 20 Jahre Großer Bruder" bringt bedenklich Aktuelles
Mittlerweile sitzen wir mit im Container - Regisseur Boris Nikitin lässt mit dieser Live-Inszenierung so einiges auf seine Zuschauer einprasseln

Von Daniel Schottmüller
Heidelberg. Es brach Panik aus. Als die Brüder Lumière im Dezember 1895 in einem Pariser Café ihren Stummfilm "Die Ankunft eines Zuges auf dem Bahnhof in La Ciotat" präsentierten, sollen die Gäste ins Freie gestürmt sein. Auf der Flucht vor der Leinwand-Lokomotive, die direkt auf sie zuzurollen schien – auf der Flucht vor der scheinbaren Realität. Im Mai 2021 kann das Publikum des Heidelberger Stückemarkts ob einer solchen Überforderung nur schmunzeln. Gerade die Zuschauer, die sich Anfang der Woche für "Erste Staffel: 20 Jahre Großer Bruder" entschieden haben, beweisen: Wir nehmen nicht mal vor einem multimedialen Gewittersturm Reißaus.
Und Regisseur Boris Nikitin lässt mit dieser Live-Inszenierung so einiges auf seine Zuschauer einprasseln. Vermutlich über einen mit dem Laptop verbundenen Fernsehbildschirm verfolgen sie eine zweistündige Aufführung, die aus einer Webserie entstand, bei der sechs Schauspieler des Nürnberger Staatstheater Szenen einer 20 Jahre alten TV-Show nachspielen, deren Konzept an George Orwells dystopischen Roman "1984" angelehnt ist. Puh!
Als wäre das nicht genug, sehen wir die Darsteller plötzlich beim Proben oder beobachten, wie sich ein Ensemblemitglied in eine Influencerin, ein anderes in einen Medienpsychologen verwandelt, der das Geschehen simultan kommentiert. Wem das noch nicht genug Medienkonvergenz ist, der darf sich im Chatfenster Luft machen. So wie der Nutzer Jan#8. Er schreibt nach der Aufführung: "Ich hatte jetzt am Ende das Gefühl, es passiert bei mir alles in der Wohnung ..." Ganz kalt lässt uns die scheinbare Realität also auch 2021 nicht. Nikitin wirds freuen. Seine Inszenierung deutet an, dass zu Beginn des neuen Millenniums ein Paradigmenwechsel einsetzte, der in seiner Wucht mit der Ankunft des Mediums Film zu vergleichen ist. Dabei sieht anfangs alles harmlos aus.
Zu den Walzerklängen von Johann Strauss‘ "An der schönen blauen Donau" wird an die Spielregeln im Big-Brother-Haus erinnert: Die Bewohner werden 100 Tage lang rund um die Uhr gefilmt. Raus kommt nur, wer nach zwei Wochen von seinen Mitbewohnern nominiert und dann per Abstimmung durch das TV-Publikum aus dem Container befördert wird. Was dann geschieht, erscheint banal: Jürgen, Sabrina, John, Andrea, Jona und Alex grillen, essen, putzen, schlafen, pinkeln. Vor allen Dingen plappern sie pausenlos vor sich hin.
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Die Kameras nehme sie gar nicht mehr wahr, sagt Julia Bartolome in der Rolle der Andrea bald. Das Private ist zum Öffentlichen geworden – ein schleichender Prozess, an den auch wir uns, Social Media-sei-Dank, gewöhnt haben. Statt sechs gibt es inzwischen Millionen Menschen, die nicht unbedingt etwas zu sagen haben und trotzdem ein Massenpublikum erreichen. Und: Sie konkurrieren um Aufmerksamkeit. Boris Nikitin drückt es so aus: "Damals haben wir über den Container gelacht, heute sitzen wir alle selber drin."
Parallelen zieht die Inszenierung auch zum Lockdown. Die Darsteller tragen Masken und sprechen vom Wunsch, endlich wieder Leute in Restaurants zu sehen. Die Figuren fragen sich, wie lange sie noch durchhalten. Sie werden gereizter und paranoider. "Die da oben" sind schuld, ist sich Jürgen (Tjark Bernau) sicher. Aber wer ist das überhaupt?
Die Darsteller, von denen am Ende vier übrig bleiben, haben sich den berlinernden Assi-Duktus ihrer Vorbilder perfekt angeeignet. Beeindruckend wird es aber, wenn die Inszenierung mit der Vorlage bricht. Etwa, wenn sich Yascha Finn Nolting, der sonst so schweigsame John, in einen Wutrausch redet. Wieder und wieder fordert er "wenigstens ein bisschen Nationalstolz" ein. Jürgen sitzt im Deutschlandshirt daneben, schaufelt sich Nudeln rein und trinkt Bier.
Werden John und Jürgen sich auf einer Pegida- oder Querdenker-Demo wiedersehen? Die Szene ist in blaues Licht getaucht, als wollte uns der Regisseur warnen. Was einst für den Stummfilm galt, gilt heute für Populismus und Nabelschau in den sozialen Netzwerken: Wenn etwas nur oft genug wiederholt wird, gewöhnen wir uns daran. Dabei wäre Panik fast die angemessenere Reaktion.