Auch geschwächt ganz schön stark
James Arthur verarbeitet mit seinem neuen Album ein Trauma. Außerdem reingehört haben wir auch bei Bon Iver, Viagra Boys, Samantha Fish und Candice Night.

Von Steffen Rüth
Um den vorletzten Jahreswechsel herum bekam James Arthur plötzlich "die schrecklichsten Schmerzen, die ich je in meinem Leben ertragen musste", wie der Brite mit der Joe-Cocker-Gedächtnis-Stimme über Zoom erzählt. Nierensteine. "Ich kam sofort ins Krankenhaus und erhielt Morphium, danach eine weitere Woche starke Schmerzmittel." Schließlich musste Arthur operiert werden. "Ich war die Tage nach dem Eingriff unheimlich empfindsam. Wahrscheinlich hätte ich mich besser einige Wochen lang erholt, aber schon wenige Tage nach der OP fing ich an, wie wild Songs zu schreiben." Und die hören sich nun, da sie fertig produziert und auf seinem sechsten Album "Pisces" versammelt sind, um einiges anders an als gewohnt.
Die mit Pathos dargebotenen Markenzeichenballaden wie sein erster Hit "Impossible", den der Mann aus Middlesbrough 2012 nach seinem Sieg bei der Castingshow "The X Factor" rausbrachte oder vier Jahre später "Say You Won’t Let Go", eine weitere Nummer eins in Großbritannien, spielen dieses Mal nur eine Nebenrolle. Anstelle des Powerpops treten fragile, zumeist verträumte Lieder, gerne mit akustischer Gitarre untermalt. "Ich war physisch so geschwächt, dass ich mein übliches Zeug gar nicht erst singen konnte", sagt der 37-Jährige, der einräumt, zum ersten Mal mit der Endlichkeit des eigenen Lebens in Berührung gekommen zu sein. "Schon aus körperlichen Gründen musste ich mich also in Zurückhaltung üben. Und im Falsett zu singen tat weniger weh als mit voller Kraft."
So ist "Pisces" ein Album, das – körperlich wie inhaltlich – Schwäche erlaubt, und gerade deshalb ganz schön stark wirkt. Die Verletzlichkeit eines Songs wie "Embers" oder "Celebrate" steht dem Sänger und Songwriter. Und wenn er in "Karaoke" oder "Cruel" beichtet, dass er trotz seines nicht immer einfachen Charakters und dem wiederkehrenden Auf und Ab in puncto Selbstvertrauen gerne als die Person geliebt werden möchte, die er nun einmal ist, dann gelingt ihm etwas Rares in der modernen Mainstreammusik: er berührt.
Dass "Pisces" nicht zu sehr zur hochsensiblen Nabelschau ausartet, besorgt er dann mit auflockerndem Indierock wie in "Yeah, No". Oder mit einem dann doch wieder recht dramatisch klingenden "ADHD". Im finalen, so weichen wie gefühlvollen "Hallelujah" kommt es schließlich zu einer Art Duett mit einem besonderen Albumgast – James Arthurs zweieinhalbjähriger Tochter Emily.
Info: "Pisces" erscheint diesen Freitag. Am 1. Dezember kommt James Arthur in die SAP-Arena, Mannheim.
Julien Baker & Torres und mehr. Hier geht es zum Sound der letzten Woche.
Sound der Woche
Bon Iver
SABLE, fABLE
Indie Man muss Justin Vernon gratulieren: Zum einen ist "SABLE, fABLE", ein hervorragendes Album geworden. Zum anderen, und wahrscheinlich bedingt das ersteres auch ein gutes Stück weit, wirkt der Kopf hinter Bon Iver glücklich wie nie zuvor. Alles ist friedlich, Liebling, säuselt er und bittet: "Keep the sad shit off the phone ..." Die ersten vier Songs stammen noch von letztjähriger "SABLE"-EP. Sie bilden das Tal der Trauer, das Vernon seinen oft und gerne von Soul und R’n'B beeinflussten Neuschöpfungen voranstellt. Und waren die letzten Veröffentlichungen kryptisch und kühl (und ebenso großartig), so klingen die "fABLE"-Lieder nun warm, verspielt – fast wie frisch verliebt. (han) ●●●
Für Fans von: Big Red Machine
Bester Song: I’ll Be There
Viagra Boys
Viagr Aboys
Postpunk Nein, sie sind nicht mehr ganz so aggressiv satirisch-politisch wie auf ihrem Debüt "Cave World" 2022. Aber noch immer ziehen die sechs Stockholmer mit dem potenten Bandnamen Geschwurbel und Verschwörungsdenken durch den Kakao – oder jetzt eben Esoterikgläubige ("Pyramid Of Health"). Dass sie sich mit ihrem rumpelnden, lärmenden Postpunk, bei dem sogar die Casio-Keyboards zuweilen übersteuern, selbst nicht zu ernst nehmen, ist klar. (hol) ●●
Für Fans von: The Soundtrack Of Our Lives
Bester Song: Pyramid Of Health
Samantha Fish
Paper Doll
Bluesrock Wer sie noch nicht live gesehen hat, hat was verpasst. Im Konzertsaal ist die elektrisierende Lust der 36-Jährigen aus Kansas City förmlich greifbar. Kann man eine solche Naturgewalt im Studio einfangen? Und wie! Die neuen (leider nur) neun Titel der Gitarristin mit der rotzigen Stimme zeigen es eindrucksvoll. Samantha Fish schafft nicht nur den Brückenschlag zwischen Blues und Rock – sie legt eines der besten Alben ab, das dieses Genre seit Jahren hervorgebracht hat. (gol) ●●●
Für Fans von: Beth Hart
Bester Song: Don’t Say It
Candice Night
Sea Glass
Folkpop Es klingt altbacken. Doch die Versuchung, Candice Night als "bessere Hälfte" Ritchie Blackmores zu beschreiben, ist groß. Die blonde Sängerin wirkt neben ihrem kauzigen Gatten einfach zu strahlend, optimistisch und einnehmend. Nun ist "Sea Glass" aber kein Album der gemeinsamen Renaissance-Band, sondern ein Solowerk. Candice nutzt es, um die Dunkelheit vollends abzustreifen. Fröhlich tänzelt die 53-Jährige zwischen Mittelalter-Folk, Pop und Country. Wenn sie dabei zu süßlichen Streichern "goodbye" haucht oder einen Mini-Chor bestehend aus Sohn und Tochter auffährt, spritzt es auch mal kitschig auf. Insgesamt fühlt man sich bei der Frau mit der Engelsstimme aber gut aufgehoben. (dasch) ●●
Für Fans von: Disney
Bester Song: Unsung Hero