Lieber Türkei-Erklärer als "Posterboy"

Was Deniz Yücel im DAI über türkische Gefängniszellen berichtete

367 Tage saß Reporter in türkischen Gefängniszellen - Davon berichtet er in Heidelberg erstaunlich humorvoll

19.11.2019 UPDATE: 20.11.2019 06:00 Uhr 3 Minuten, 29 Sekunden
„Wenn ich auf die Fresse kriege, neben vielen anderen, dann ist das halt so“: Den Journalisten Deniz Yücel zeichnen auch Trotz und eine gewisse Rücksichtslosigkeit gegenüber sich selbst aus. Foto: Alfred Gerold

Von Sören S. Sgries

Heidelberg. Formulieren kann er. Mal scharf. Mal humorig. Und meist auf den Punkt. Das weiß, wer Deniz Yücels Reportagen und Kolumnen kennt. Das konnte erleben, wer am Montagabend in Heidelberg dabei war. Zwei Stunden lang unterhält der 46-Jährige sein Publikum im ausverkauften "Deutsch-Amerikanischen Institut". Die 400 Gäste bekommen viel zu Lachen. Sehr viel. Eher überraschend bei diesem Thema.

Denn die spannendste Geschichte, die Yücel derzeit erzählen kann, ist seine eigene – eine eher ungewöhnliche Situation für einen Journalisten. "Ich war nicht darauf aus, mich zum Posterboy der Pressefreiheit zu machen", beteuert er. Doch genau das wurde er, als er ab Februar 2017 ein Jahr lang, 367 Tage, in türkischen Gefängniszellen verbrachte. Als die öffentliche Solidaritätskampagne an Fahrt aufnahm, wurde sein Foto, damals mit markantem Schnauzbart, deutschlandweit bekannt. Und #freedeniz zu dem Schlagwort, mit dem die Missstände in der Türkei angeprangert wurden.

Yücel zeichnet nach, wie er, der im hessischen Flörsheim geborene "Welt"-Korrespondent mit deutschem und türkischem Pass, zur politischen Geisel wurde. Er erzählt, wie er 2015 von der Anti-Terror-Polizei mitgenommen wird, weil er einem Provinzgouverneur die falschen Fragen stellt. Erst sechs Wochen ist er da im Land. "Das war das erste Mal, wo ich am eigenen Leib erfahren habe, wie das Regime mit unliebsamen Journalisten umgeht."

Er erzählt, wie sich ein Jahr später, im Sommer 2016, die Lage mit dem Putschversuch gegen Präsident Recep Tayyip Erdogan noch einmal deutlich verschärft. "Der Putschversuch war niedergeschlagen, aber wir hatten eine Junta an der Macht", beschreibt Yücel den Mentalitätswechsel. Die gleichen Leute im Amt wie zuvor – aber jetzt wurde mit den Mitteln der Militärdiktatur regiert. "Ich hatte danach keinen Spaß mehr."

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Den Mächtigen auf die Finger schauen, die wichtigste Aufgabe eines Journalisten? Yücel will das, er will nicht weglaufen. Zumal ja viele türkische Kollegen noch massiveren Repressionen ausgesetzt waren und sind. "Wenn ich auf die Fresse kriege, neben vielen anderen, dann ist das halt so", gibt er sich trotzig. Er macht weiter.

Weihnachten 2016 macht die Nachricht die Runde, dass eine größere Gruppe Journalisten festgenommen wurde. Nach anderen, darunter Yücel, werde gefahndet. Der taucht unter. Einige Wochen verbringt er in der Sommerresidenz des deutschen Botschafters in Istanbul. Er sucht Anwälte, hofft auf eine Lösung auf diplomatischem Weg.

"Ich hatte mich verkrochen und versteckt, als hätte ich etwas Schlimmes getan", beschreibt er seine Gefühlslage. Das passte ihm nicht. Ebenso wenig wie die Unfreiheit, die er als Gast der Bundesregierung hinnehmen musste. "Ich mache hier nicht den Assange", beschloss er mit Blick auf den Whistleblower, der sich jahrelang in der ecuadorianischen Botschaft in London aufhielt. Yücel stellte sich. "Ich habe erst mit dem Polizeichef einen Tee getrunken – und bin dann für 14 Tage im Keller verschwunden", sagt er. Für ihn paradoxerweise "der erste Schritt in die Freiheit".

Ein Jahr lang läuft das Ringen um seine Freilassung. Als "Ajan-terörist" brandmarkte ihn Präsident Erdogan. "Agentterrorist" heißt auch Yücels Buch. Selbstverständlich, spottet er, liege ein Honorar für Erdogan bereit für diese Wortschöpfung.

Der Journalist sieht in seiner Verhaftung einerseits den Versuch, andere ausländische Reporter einzuschüchtern. Und er sieht sich selbst als politische Geisel – und wehrt sich. Mit allen Mitteln versucht er, aus der Haft heraus Einfluss zu nehmen. In der Schmutzwäsche schmuggelt er Berichte vom Alltag aus der Zelle – erst in Gewahrsam, dann im Hochsicherheitsgefängnis Silivri Nr. 9. "Da ging es nicht nur um Selbstbehauptung als Journalist", sagt er. "Ich wollte in diesen Prozess eingreifen." Er schreibt mit Soße, mit einem geklauten Kugelschreiber, in die Seiten eines Buches. "Der Kleine Prinz" von Antoine de Saint-Exupéry habe viel Weißraum, schmunzelt Yücel. Von seinem "unbedingten Willen", mitzumischen, erzählt er. Aber auch von der Rücksichtslosigkeit, mit der er nicht nur sich selbst, sondern auch seinen Freunden gegenüber zugange war.

Vieles bleibt an diesem Abend unerzählt. Wie er letztlich die Entlassung erlebte? Spart er aus. Dafür blickt er andeutungsweise über das eigene Schicksal hinaus – und genau hier liegt auch die große Qualität seines fast 400-seitigen Buches, das viel ausführlicher, viel hintergründiger werden kann und keineswegs einfaches Hafttagebuch bleibt, sondern versucht, die Türkei zu erklären. Jenseits von Schwarz-Weiß.

Ein Beispiel: Wenn Yücel berichtet, dass täglich ein "Medizin-Check" zum Gefängnisprogramm gehörte, bei dem die Ärzte nach Folter fragten, macht er das nicht ohne Hintergedanken. Denn ausgerechnet Erdogan war es, der die Folter im Land ächten wollte. Wer hätte es vermutet? Die Lage in den Gefängnissen heute sei heute weit entfernt von früheren Zuständen, so Yücel. Dabei erlebte er selbst Folter. Von drei Tagen schreibt er.

Und auch wenn er sehr ausführlich über die EU-Begeisterung vor 20 Jahren berichtet, als die Türkei Beitrittskandidat wurde, wird klar: Einfache "Wahrheiten" über das Land am Bosporus, über den aktuellen türkischen Potentaten, die sich mit seiner Haft doch so gut belegen ließen – die teilt der Journalist Yücel eigentlich nicht. Kanzlerin Angela Merkel und der damalige Präsident Nicolas Sarkozy hätten mit ihrer Ablehnung der Türkei dazu beigetragen, dass sich die Türkei abgewandt habe, mutmaßt er. Und korrigiert gleich darauf: "Es hätte sogar mit EU-Beitritt in so eine Richtung gehen können." Licht und Schatten – nah beieinander.

Was bleibt also nach diesem Abend? Viele spannende Anekdoten. Viel "eigenwilliger Humor", wie Yücel selbst einige seiner Beobachtungen in der "Nichtsodemokratie" einordnet. Und das Gefühl, dass Yücel zwar ein Mann mit einer interessanten Geschichte ist. Er aber unbedingt weiter die Geschichten anderer erzählen sollte. Nicht als "Posterboy". Sondern als Journalist.