Von Frauke Gans
Rhein-Neckar. Premierministerin Theresa May ist am Ende. Die Brexit-Partei hat bei der Europawahl in Großbritannien einen klaren Sieg errungen. Nach aktuellem Stand muss London bis spätestens Ende Oktober den EU-Austritt klarmachen. Für Ausländer in England entwickelt sich der Brexit zum alten Pflaster, das so langsam und schmerzhaft wie möglich abgezogen wird. Immer noch die leise Hoffnung, dass es doch dran bleibt, aber beständig wird daran geruckelt. Derweil steigt der Rassismuspegel im Land. Wie erleben es Menschen aus der Rhein-Neckar-Region, die zum Teil seit Jahren auf der Insel leben?
Die Mosbacherin Dorothee Bechinger-English lebt seit Jahrzehnten in England. Mit britischem Mann und Kindern. "Rassismus gab es zwar schon immer. Aber jetzt ist er gesellschaftsfähig. Er wird uns ins Gesicht gebrüllt. Früher ging es um den Zweiten Weltkrieg. Ich wurde als Nazi betitelt, meine Kinder auch. Jetzt wird mir wegen meines Akzents auf offener Straße zugerufen: Fuck off, geh dorthin, wo du hergekommen bist."
Die Anfeindungen haben eine andere Basis bekommen. "Aufgrund einer Krebserkrankung bin ich in einer Art Selbsthilfegruppe. Ein Korps von Erkrankten. Einige Mitglieder sagten mir frei ins Gesicht, sie hätten in England keinen Platz für all diese Fremden hier. Ich sei keine Engländerin. Erst müssten Einheimische gesundheitlich versorgt werden. Dabei habe ich 30 Jahre in die Kasse eingezahlt."
Engländer im Ausland - wie beispielsweise in Griechenland - genießen hingegen dort die freie Gesundheitsversorgung in Krankenhäusern durch die EU-Regelungen. Und haben dementsprechend wenig Verständnis für die Haltung ihrer Landsleute daheim.
Auch der griechische Außenminister hat in einem öffentlichen Brief deutlich gemacht, dass er gedenkt, dafür zu sorgen, dass Engländer in Griechenland weiterhin die gleichen Rechte genießen wie vor Brexitzeiten. Im Gegenzug bittet er darum, die in England lebenden Griechen ebenso weiter gut zu behandeln. Auch Angela Merkel machte in ihrer Regierungserklärung deutlich, dass die in Deutschland ansässigen Briten hier auch weiterhin problemlos wohnen können. Nur wer neu kommt, muss ein anderes Prozedere durchlaufen.
Großbritannien scheint dabei nicht gleichziehen zu wollen. EU-Bürger, die bereits in England leben, müssen sich neuerdings eine Aufenthaltserlaubnis besorgen. Den "settled status" oder alternativ den "pre-settled status". Wer sich im Laufe der Jahre eine uneingeschränkte Aufenthaltserlaubnis organisiert hat, bekommt das entsprechende Papier zwar schnell. Da innerhalb der EU eine solche Bestätigung aber nicht zwingend notwendig war, leben etliche EU-Bürger ohne entsprechendes Dokument im Land.
Das war schließlich der große EU-Traum: Sich vollkommen barrierefrei bewegen zu können. Wer jetzt einen "settled status" möchte, muss nachweisen, dass er seit fünf Jahren mindestens sechs Monate im Jahr in England verbracht hat. Anhand von Rechnungen oder Steuernachweisen. Das Problem: Etliche Frauen sind mit einem Engländer verheiratet, haben die Kinder großgezogen. Alle Abrechnungen laufen auf den Namen des britischen Ehemannes.
Und anders als in anderen EU Ländern, berechtigt die Heirat mit einem Engländer nicht zum Aufenthalt im Land. Auch nicht nach 30 Jahren Ehe und gemeinsamen Kindern. Familien könnten im Extremfall also auseinandergerissen werden. Während in EU-Ländern wie Deutschland und Griechenland das Recht der Familie gilt. Eine Heirat mit einem Bürger des Landes beinhaltet auch ein Bleiberecht. Ohne "settled status" oder "pre-setteled status" übernimmt in England zum Beispiel keine gesetzliche Krankenversicherung eine Arztrechnung.
Folgt man in sozialen Medien der Spur in England lebender Deutscher, stößt man auf die Gruppe "in limbo". In Großbritannien ansässige Deutsche, die in ihrer Wahlheimat entweder der Dinge harren, die da kommen, bereits packen oder schon wieder zurückgekehrt sind. Mit "in limbo" bezeichnen auch im Ausland ansässige Engländer ihre momentane Situation. Sie haben sich fest niedergelassen, Häuser gekauft, Familien gegründet. Plötzlich wird an ihrem Leben gerüttelt, wie sie es nie für möglich gehalten hätten.
Die Deutsche Kat hat zumindest den Kofferdeckel schon mal aufgeklappt für den Umzug zurück nach Heidelberg. Hier hat sie studiert. Den vollen Namen möchte sie nicht nennen, denn "mein britischer Mann ist in der Gruppe ,Remain‘ aktiv." Eine Organisation, die für den Brexitstopp unterwegs ist. "Deswegen haben wir massiv mit Anfeindungen zu kämpfen", berichtet Kat. Sie hadern noch, da ihr Mann einen gut bezahlten, sicheren Job hat. "Und wir sind inzwischen beides, deutsch und englisch. Wir können uns nicht zwischen zwei Welten entscheiden."
So ergeht es vielen binationalen Familien, was aber leider wenig gesetzliche und gesellschaftliche Berücksichtigung findet. Und der Rechtsruck in Europa hat es nicht besser gemacht. "Den ,settled status‘ würde ich wohl bekommen. Ich muss aber meine Kontoauszüge und die meines Mannes der letzten fünf Jahre als Nachweis abgeben", so Kat. Das allein wäre für sie noch kein Grund, nach Heidelberg zurückzukehren.
Aber wie in Dorothee Bechinger-Englishs Fall ist es der offene Rassismus, der ihr den Alltag in Groß-Britannien verleidet. "Rassismus gab es tatsächlich schon immer. Aber jetzt ist er überall präsent und wird ohne Scheu gelebt." Vor allem in den Medien: "Ausländer erkennen ihn oft nicht, wegen der englischen Angewohnheit, solche Aussagen zwischen die Zeilen zu packen. Das geht an die Nerven, ständig mit diesem ,man ist nichts wert‘ konfrontiert zu werden. So läuft das seit kurz vor dem Referendum bis jetzt durchgehend", berichtet Kat. Das Paar hat ein Haus im Außenbezirk Londons. "Dort ist es schlimm. Unser Heim in Hitchin gehört zu den ,Remain‘-Enklaven. Dort ist es entspannter."
"Eine Daueraufenthaltsgenehmigung bekam ich nicht, weil ich nicht genug Sozialabgaben gezahlt habe. Dass ich meine britische Familie gepflegt und viel ehrenamtlich gearbeitet habe, dem Staat nie zur Last gefallen bin, all das zählt nicht", klagt Kat. "Nach 20 Jahren. Fast mein halbes Leben. Das war ein Schock und eine tiefe Verletzung. Mein Mann fühlt sich von seinem Land betrogen, weil seine Frau kein automatisches Bleiberecht bekommt. Schließlich sind wir nicht seit gestern verheiratet. Inzwischen bin ich auch schwanger. All das hat kein Gewicht."
Dorothee Bechinger-English ist sogar seit den Siebzigerjahren in England. "Uns ängstigt, dass unser Status nach all der Zeit plötzlich nicht gesichert ist. Das hat einen Einfluss auf die Möglichkeit, eine Wohnung zu mieten, ein Konto zu eröffnen, die Möglichkeit auf eine Gesundheitsversorgung. Und schlimm ist die feindliche Einstellung gegenüber uns Ausländern, die durch das britische Innenministerium verursacht worden ist. Wie durch den ,Windrush Skandal‘." Bei dem vergangenes Jahr Ausländern fälschlich mit Ausweisung gedroht wurde, ihnen ihre Rechte vorenthalten wurden, die zum Teil ihre Jobs verloren und in 63 Fällen wurden tatsächlich Ausländer gegen geltendes Recht ausgewiesen. Ausländer, die in England zur Welt gekommen sind. Plötzlich durften viele auch ohne rechtliche Grundlage nicht mehr einreisen. "Dementsprechend haben wir Angst. Und der Rassismus macht es nicht besser."
Paul Bosse hat es aufgegeben und lebt inzwischen in Ludwigshafen. Er ist in England aufgewachsen. Seine ersten Worte waren Englisch. Er lebte und arbeitete bis vor Kurzem dort. Sein Kind mit seiner bereits verstorbenen englischen Lebenspartnerin hat die englische und deutsche Staatsangehörigkeit. Aber er ist in München geboren und seine Eltern waren Deutsche, die in England arbeiteten. "Großbritannien ist meine Heimat. Behalte ich diese Ansicht allerdings bei, werde ich verrückt. Und mein Kind braucht mich gesund. Wir hatten über meinen Vater eine uneingeschränkte Aufenthaltserlaubnis. Ich weiß aber nicht, wo diese Unterlagen sind. Auf Anfrage des englischen Sozialamtes gab das Innenministerium halbseidene Antworten. Auf meine eigene Anfrage hin behaupteten sie einfach, es gäbe diese Unterlagen nicht. Also bin ich gegangen."
Warum? Er hätte vermutlich trotzdem den "settled status" erhalten, da er seit über fünf Jahren im Land war und Arbeit hatte. "Aber ich erkenne das Land nicht mehr. Man ist dort jetzt als Ausländer ein anderer Mensch. Die Stimmung, der Umgang miteinander wie die sozialen Bindungen sind ,angestresst‘. Ich scheine zu deutsch für England geworden zu sein und bin aber zu englisch für Deutschland. Und die Stimmung dort hat mir Angst gemacht", erzählt Paul Bosse.
"Dabei verliere ich aber meine Heimat. Das zerreißt einen. Und hat einen Effekt auf das gesamte Wohlbefinden. Ich habe drei Jahre hart an mir arbeiten müssen, um damit klarzukommen, dass ich einfach kein Engländer mehr sein darf. Mein ganzes Leben habe ich dort verbracht. Das ist meine Identität. Meine Staatsangehörigkeit, meine Wurzeln, mein Pass oder meine Herkunft bestimmen sie nicht. Meine Identität ist meine Sache. Aber ich muss lernen, damit umzugehen, dass die Behörden und die englische Gesellschaft das anders sehen."