Synthetisch oder Natürlich?

Ressourcenschonender, ethisch korrekt und effektiver – unsere Ernährung wird sich ändern. Lecker soll es aber trotzdem schmecken, sagt zumindest ein Experte.

13.04.2016 UPDATE: 10.05.2016 06:00 Uhr 2 Minuten, 28 Sekunden
Synthetisch oder Natürlich?

Die Ernährung und die Essgewohnheiten der Menschen in Deutschland werden sich einer Studie zufolge in den nächsten 15 Jahren deutlich wandeln. Das Nestlé Zukunftsforum hat wahrscheinliche Szenarien erarbeitet und Verbraucher dazu befragt. Foto: dpa

Von Kathrin Hoth

Dass sich an Tischen hervorragend Politik machen lässt, ist kein Geheimnis. Man denke nur an den Runden, den Kabinetts- oder auch den Stammtisch. Neu hinzukommen zum Reigen der gewichtigen Möbelstücke dürfte der Esstisch. Warum? Weil Essen in Zukunft nicht einfach nur Nahrungsaufnahme ist. Davon ist Hartmut Gahmann überzeugt. "Ernährung wird immer mehr zum persönlichen Statement", sagt der Direktor der Öffentlichkeitsarbeit von Nestlé Deutschland.

In einer Studie untersuchte das Unternehmen, worauf es den Menschen in Sachen Lebensmitteln im Jahr 2030 ankommt. Ein Ergebnis: Der Großteil der über 1000 Befragten legt noch mehr als heute Wert auf nachhaltigen und ethisch korrekten Konsum. Auf den Tellern landen also vermutlich vor allem Selbstgekochtes und Bioprodukte, aber auch Algen und Insekten. Letztere preisen Experten schon seit einiger Zeit als ressourcenschonende Alternative zur gewohnten westlichen Nahrung an. Sind Maden also das neue Schnitzel? "Die Menschen sind sehr aufgeschlossen für neue Proteinlieferanten, vorausgesetzt, sie kommen so auf den Tisch, wie man es gewohnt ist: also als Burger, Schnitzel oder Frikadelle", sagt Gahmann.

Der Fuldaer Ernährungswissenschaftler Professor Marc Birringer hat noch eine andere Theorie. "Möglicherweise werden Insekten auch durch die Hintertür in die westliche Nahrungskette eingeführt", meint er. Gerade bei Nutztieren sei es oft schwierig, hochwertiges Futter bereitzustellen, ohne zu stark in die Umwelt einzugreifen. Proteine aus Insekten könnten Abhilfe schaffen. Allerdings sind nach europäischen Regeln Insektenmehle derzeit nur im Futter für Heimtiere, nicht aber für Nutztiere erlaubt. Auch als Nahrungsmittel haben Insekten bislang noch nicht die nötige Genehmigung als sogenanntes Novel Food. Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit schlägt in einem Gutachten zum Insektenverzehr zudem einen eher verhaltenen Ton an. Wenn Würmer oder Grillen als Masttiere gehalten werden, könnten sich in ihrem Fleisch ebenso Krankheitserreger und Schadstoffe anreichern wie in Rinder- oder Schweinefleisch, heißt es dort.

Zum Glück hält die Zukunftsstudie noch andere Ernährungsszenarien bereit. Denn, das ist für Gahmann eine der wichtigsten Erkenntnisse: "Es gibt nicht nur eine Zukunft der Ernährung." Sondern mehrere verschiede Entwürfe, die parallel nebeneinander existieren. Und natürlich schlägt sich auch der Wahn zur Selbstoptimierung auf dem Teller nieder. Nahrungsmittel, da sind sich Experten einig, werden 2030 mehr als je zuvor nach ihrer Effektivität und Funktionalität beurteilt. Was zählt, ist die Menge der Vitamine, Mineralstoffe und anderen nützlichen Bestandteile. "Das wird eine Gratwanderung zwischen Genuss und Selbstoptimierung", sagt Ernährungswissenschaftler Birringer. Abwegig ist es nach seiner Auffassung nicht, dass in Zukunft Pillen die Kartoffel ersetzen.

Gahmann ist da anderer Meinung. "Die Menschen wollen vernünftig essen und dabei ein Geschmackserlebnis haben", sagt er. Auf zusätzlichen Nutzen für den Körper wollen viele trotzdem nicht verzichten. Die Lösung sieht er in einer perfekt auf die individuellen Bedürfnisse zugeschnittenen Nahrung und vergleicht seine Vision mit einem bestimmten Autotyp. Eigentlich ja ein Serienprodukt. Trotzdem gleicht kaum ein Wagentyp dem anderen. Es gibt sie mit Leder- oder Stoffsitz, mit oder ohne Klimaanlage, mit Automatikgetriebe oder Gangschaltung - individuell kombinierbar nach den Bedürfnissen der Kunden. Auf Ernährung übertragen könnte das heißen, es gibt Produkte, abgestimmt auf spezielle Lebensstile wie Sportler oder Büroarbeiter. Oder Ernährungskonzepte zur Vorbeugung und Behandlung bestimmter Erkrankungen.

Das klingt nach einer sehr gesunden Gesellschaft. Aber: "Was gesund ist, wissen wir schon lange. Das Problem ist, dass wir uns nicht immer daran halten", sagt Birringer. Das Laster der Gelüste lässt sich eben nicht so einfach wegtechnologisieren. Und das ist auch gar nicht nötig, meint der Ernährungsexperte. Ihm geht es ohnehin zu oft darum, was in der Nahrung steckt, und zu selten darum, welchen Einfluss der soziale Aspekt einer gemeinsamen Mahlzeit auf die Gesundheit hat.

Insofern darf Birringer sich auf 2030 freuen. Denn dann steht gemeinschaftliches Essen ganz hoch im Kurs. "Das ist gewissermaßen der Gegenentwurf zu einer immer virtueller werdenden Gesellschaft", sagt Gahmann. Gekocht wird bald möglicherweise nicht mehr zu Hause, sondern in Großküchen, die tageweise an Familien oder Freundeskreise vermietet werden. Inklusive Esstisch, versteht sich.