Ein Ort der Transformation: Portal des alten Königspalasts in Seoul. Foto: voe
Von Volker Oesterreich
Berlin. Man kann natürlich auch fragen: Warum tut sich das einer an? Warum ist der Politologe und Politikberater Georg Milde drei Monate lang rund um die Welt gereist, um Woche für Woche in einer anderen Metropole zu ergründen, wie sich der rasante gesellschaftliche Wandel vollzieht? Die Digitalisierung, die Globalisierung, die neue Sinnsuche oder soziale Erosionsprozesse führen auf allen Kontinenten zu jenen "Transformationsgewittern", denen sich der Globetrotter Milde als kluger Beobachter aussetzt. Jedes Kapitel porträtiert zunächst kurz das Land, in dem Milde Station macht, und wagt am Ende unter der Überschrift "Was ist, was wird?" eine Prognose.
Seine Impressionen, die er in afrikanischen Slums oder im Londoner Finanzdistrikt, als unfreiwilliger Übernachtungsgast in einem Tokioter Bordell oder in Donald Trumps Amerika sammelte, runden sich auf mehr als 500 Seiten zu scharfsinnigen Analysen. Aber der 1977 in Aachen geborene Autor, der von 2006 bis 2010 persönlicher Berater von Helmut Kohl war, hat seine Fakten nicht nur zu sehr gut lesbarer Journalistenprosa verdichtet, er zieht am Ende seiner Grand Tour auch ein Fazit in Form eines Zwölf-Punkte-Plans. Darin plädiert er unter anderem dafür, dass wir zum Umdenken bereit sein müssen, dass wir uns nicht selbst benebeln dürfen oder dass wir uns kritischer gegenüber der Technik verhalten sollen.
Klingt nach Allgemeinplätzen, aber Milde zeigt dennoch viele Perspektiven auf. Hoffnungen setzt er in die Generation der Millennials: "Sie werden heute häufig als egozentrisch, antriebsschwach und unentschlossen dargestellt. Doch unterwegs traf ich zahlreiche der um die Jahrtausendwende Geborenen, die mir ein anderes Bild vermitteln." Diese Generation wirke zwar manchmal weniger kritisch, sei aber weltoffen, pragmatisch und bildungshungrig. Das macht Mut.
Zu den spannendsten Stationen des Weltenbummlers gehört sicherlich der Tigerstaat Südkorea, der in den vergangenen 50 Jahren einen atemberaubenden Wandel vom Armenhaus zur Hightech-Talentschmiede vollzogen hat. Auch kulturell vibriert die Szene zwischen Gangnam-Style und sozialkritischer Dramatik. Von Letzterer konnte man sich beim Heidelberger Stückemarkt mit seinem Südkorea-Schwerpunkt überzeugen.
Georg Milde verschweigt bei seinen Beobachtungen im Moloch Seoul aber auch nicht die Schattenseiten. Etwa die extrem hohe Arbeitsbelastung oder die Rekord-Suizidrate: "Diese ist fast dreimal so hoch wie in Ägypten, das damit auf meiner Reise das Land mit der niedrigsten Selbstmordrate darstellt."
Erstaunt zeigt sich der Autor darüber, wie stoisch die Südkoreaner dem allgegenwärtigen Kalten Krieg begegnen, obwohl die U-Bahnstationen der Stadt angesichts der atomaren Bedrohung aus Nordkorea mit ABC-Schutzmasken, Sauerstoff-Geräten und Taschenlampen ausgestattet sind. Zugleich konstatiert der kritische Beobachter, dass die Südkoreaner "null Umweltbewusstsein" hätten. Aber Lernprozesse stellen sich schnell ein. Das zeigte sich nach dem Untergang der Fähre "Sewol", bei dem 2014 zahlreiche Schulkinder ums Leben kamen. Die Aufarbeitung der Schiffskatastrophe führte zum Umdenken in breiten Gesellschaftsschichten und sorgte dafür, dass die korrupte Führungselite abserviert wurde. Seitdem spürt man einen neuen Aufbruch im Land.
Insgesamt überrascht das Buch durch viele Insideransichten. Milde hat mit den Gewinnern und Verlierern der allgegenwärtigen "Transformationsgewitter" gesprochen. Natürlich kann er nicht die ganze Welt erklären. Sein Blick in die Glaskugel führt auch nicht überall zu Lösungswegen. Das erwartet auch keiner. Aber schon allein die vielen Fragen, denen er sich stellt, bringen den Leser weiter.
Info: Georg Milde: "In Transformationsgewittern - Eine Reise um die Welt zu den Schauplätzen des Umbruchs". B & S Siebenhaar Verlag, Berlin 2018, 542 Seiten, 25 Euro.