Heidelberg

Mine flext vor 600 Fans im Karlstorbahnhof

Dabei zeigt die Ausnahmekünstlerin trotzdem gewohnt viel Tiefgang: "Ich bin so alt, ich bin ein Baum".

10.05.2024 UPDATE: 09.05.2024 19:02 Uhr 2 Minuten, 41 Sekunden
Stylishes Gesamtkunstwerk: die Sängerin Mine im Karlstorbahnhof. Foto: Philipp Rothe

Von Ute Teubner

Heidelberg. "Ich bin ein Nichts ... Ich bin ein Nichts ..." tönt es von der dunklen Bühne herab. "Mein Untergang grinst ... sitzt in der Ecke und grinst ..." Gregorianisch-sakraler Gesang, auch ohne den Kieler Knabenchor. Dann zuckt grell-buntes Licht durch den Raum. Dieser gnadenlos tickende Rhythmus erklingt. Und Mine, im glänzenden goldenen Outfit und mit gewohnt stylisher Brille im Gesicht, erscheint, um auch nach dem Intro erst mal düster-dystopisch dranzubleiben.

"Es ist schattig, das Leben ist hart" und "Alles im Arsch" singt sie. Als schließlich noch Warmup-Singer-Songwriterin Shelly Phillips mitmischt, die vorher allen AfDlern den Laufpass gegeben hat, gibt es kein Halten mehr im nicht ganz ausverkauften Heidelberger Karlstorbahnhof. Die 600 Fans sind aus dem Häuschen, und solche, die es an diesem Abend noch garantiert werden, ebenfalls.

Allen voran die Frau in der rosa Jacke, die soeben ihr erstes Mine-Konzert erlebt: "Das ist echt sensationell, die hat ja eine richtig starke Stimme!" Ihr Begleiter freut sich. Für ihn ist es der vierte Liveact dieser Ausnahmekünstlerin. Mine – ein Gesamtkunstwerk mit extrem viel Spielfreude, mit extrem viel Style.

Und: Die 38-Jährige, die unter anderem an der Mannheimer Popakademie studiert hat, mag "Eiscreme", wie nicht zuletzt einer ihrer Songtitel verrät. Während ihrer eineinhalb Jahre in der Quadratestadt lernte sie diverse Eisdielen kennen und lieben. Das "beste Eis ever" aber, das gibt es in Heidelberg, wie die Besucher im Karlstorbahnhof erfahren. Schade: "Hätten wir das gewusst, dann hätten wir die ganze Tour nur hier gespielt!"

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Was Pop-Freigeist Mine, die mit bürgerlichem Namen Yasmin Stocker heißt, aber vor allem mag: wenn "ein Album so unlangweilig wie möglich ist". So jedenfalls formulierte es die aus Remshalden bei Stuttgart stammende Sängerin, Songwriterin und Produzentin einmal im RNZ-Interview. Ein Anspruch, dem Mine auf ihrer "Baum"-Tour wohl mehr denn je gerecht wird.

Wenn nach "Schattig" der "Elefant" (der aus der berühmten Mücke entstanden ist) mit fröhlich-funkigen Beats daherstampft, weicht die anfängliche Weltuntergangsstimmung ganz plötzlich einer quietschvergnügten Gute-Laune-Party. Und das, obwohl der graue Riese gerade all die unausgesprochenen Worte in einer Beziehung hörbar macht. Ganz ähnlich der Song "Fesch", zeitgeistiger Hyperpop mit coolen Moves, in dem selbstironisch über die eigene Freshness geflext wird.

Macht Mine nun Pop gemixt mit Deutschrap? Oder deutschsprachigen Folk mit Hip-Hop-, Elektro- und Jazzelementen? Egal was es ist: Ihre Musik weigert sich beharrlich, in eine Schublade gesteckt zu werden, ihre Texte berühren und bilden das Herzstück ihres Songwritings, ihre Performance ist kraftvoll. Mine – die Naturgewalt, die mit ihrem neuen (siebten!) Album "Baum" über sich selbst hinauswächst. Aus deren kreativen Inneren musikalisch vielfältige, wilde Triebe sprießen.

"Als ich mit 27 Jahren mein erstes Album veröffentlichte, dachte ich, ich sei zu alt", erzählt sie ganz offen. "Diese Leistungsgesellschaft, dieser ganze Kapitalismus, das ist nicht meins", stellt sie fest. "Du bist super!", ruft jemand aus dem Publikum. Die Antwort kommt mit vielen Fragen im Song "Unfall" daher: "Worein bin ich geboren? (...) Was ist Freiheit? Wer beengt mich? Was ist Arbeit? Wer beschenkt mich? Wer hat stets genug für sich? Wer starrt hungrig auf den Tisch?"

Ja, diese kritischen und tiefen Texte sind es, die Mines Schaffen ganz besonders auszeichnen. Ob Verteilungskampf oder Klimakrise ("Das Meer ist aus Plastik, der Hunger ist groß" heißt es etwa in "Hinüber"), ob schlimmster Streit mit der Freundin ("Mein Herz") oder der Tod der Mutter in "Staub" ("Wir reden viel zu wenig übers Sterben!") – die Künstlerin, die vor drei Jahren den Deutschen Musikautorenpreis in der Kategorie Text (Lied/Chanson) abräumte, lässt außergewöhnlich viel Nähe zu.

Offenheit, die nicht ins Kitschige abrutscht. Authentizität. "Ich bin so alt, ich bin ein Baum", singt Mine schließlich den Titelsong – und fast nimmt man es ihr ab. Sie hat musikalisch Wurzeln geschlagen. Theatralik, Begeisterung, Klatschen. "Es war so schön! Blöd, dass es fast vorbei ist." Als Zugabe noch einmal eine Reise in die Kindheit mit leidvoller Mobbingerfahrung: "Wenn ich könnte, wüsste ich, was wichtig ist, was nicht" erklingt es aus 600 Kehlen, Mine dirigiert und freut sich: "Crazy, dass ihr alle den Text kennt!"

Beim Rausgehen ist nicht nur die Frau in der rosa Jacke im Glück. Nein, alle sind happy. Auch Mine am Merch-Stand strahlt. Ob sie uns das nächste Mal verrät, wo sie das "beste Eis" her hat?

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