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Heidelberg diskutiert: "Wissenschaft - die neue Religion?"

Im Heidelberger DAI diskutierten internationale Autoren über die Frage "Wissenschaft - die neue Religion?" - Finale eines einzigartigen Projekts

06.11.2016 UPDATE: 07.11.2016 06:00 Uhr 3 Minuten, 11 Sekunden

Der "Heidelberger Geist" steht traditionell für das kulturell-wissenschaftliche Leben in der Stadt und lebt im Titel des DAI-Science Festivals "Geist Heidelberg" fort. Seinen berühmtesten Bezug hat der Begriff in den Worten "Dem lebendigen Geist". Sie stehen als Schriftzug über dem Eingang zur Neuen Universität am Universitätsplatz und seit geraumer Zeit auch in großen roten Buchstaben vor dem Kirchhoff-Institut für Physik im Neuenheimer Feld. Foto: H. Vogt

Von Arndt Krödel

Ungewöhnliche "Praktikanten" stellten sich im letzten Jahr für eine Woche in verschiedenen Heidelberger Forschungseinrichtungen vor, drängende Fragen im Gepäck, die ausführlich zu besprechen waren, und mit einer unbefangenen Neugier ausgestattet, die sich auf alle Gegenstände ihrer so unbekannten, fremden Umgebung richtete. Zehn Autoren aus sieben Ländern waren Protagonisten in einem einzigartigen Dialog zwischen Literatur und Wissenschaften, eingeladen vom Deutsch-Amerikanischen Institut Heidelberg (DAI), das damit sein internationales Projekt "Wissenschaft - die neue Religion?" startete.

Partner waren die Universität Heidelberg und ihr Klinikum, das Deutsche Krebsforschungszentrum (DKFZ) und das European Molecular Biology Laboratory (EMBL), ferner das Max-Planck-Institut für Astronomie, das Haus der Astronomie und die Prinzhorn-Sammlung.

Nun, ein Jahr danach, traf man sich zum Finale im ausverkauften DAI, um gewonnene Einsichten auszutauschen, unbeantwortete Fragen zu diskutieren, immer auf der Suche nach Antworten darauf, ob es heute die Wissenschaften sind - und nicht länger die Religion -, die Orientierung bieten. Helfen sie, in unübersichtlicher Zeit mit gravierenden Konflikten und Problemen einen (Aus-)Weg aufzuzeigen, der komplexe Zusammenhänge verstehen lässt und vielleicht sinnstiftende Normen schafft?

Die Besucher erwartete ein vollgepacktes Programm mit drei moderierten Gesprächsrunden, zwei in englischer Sprache, in denen jeweils drei Autoren Rede und Antwort standen. Ein gehöriges Maß an mentaler und körperlicher Kondition war notwendig, um die etwa dreieinhalb Stunden durchzuhalten. Für angenehme, kurze Unterbrechungen sorgten mächtige Rhythmen von Djembe-Trommeln, an denen Klaus van Boekel und Vera Matenaar saßen.

"Es geht um einen Weckruf", hatte DAI-Chef Jakob Köllhofer passenderweise zuvor in seiner Begrüßung gesagt. Den Religionen attestiere man zurzeit eher "Erschöpfung". Könnte die Wissenschaft das große Ganze zusammensetzen? Schließlich berufen sich die Menschen heute in wesentlichen Fragen nicht auf den Katechismus, sondern auf wissenschaftliche Studien oder Wissenschaftler. Die an dem Projekt beteiligten Autoren wurden "wild" ausgewählt und die Vorgaben für ihre Mission bewusst niedrig gehalten: Es gab keine Auflagen, jede(r) konnte in Eigenverantwortung vorgehen und das im "Praktikum" Erfahrene dann am Ende in literarischen Texten verarbeiten, die in ganz unterschiedlichen Formen - Reportagen, Essays, Erzählungen - in einem Buch erschienen sind (siehe Info).

Wissen und Wissenschaft gehörten zusammen wie Religion und Glaube, stellte Prof. Jan Wörner, Generaldirektor der Europäischen Weltraumbehörde (ESA), in seiner Eröffnungsrede fest. Die Aussagen von Albert Einstein, dass Wissen begrenzt sei, und von Blaise Pascal, dass der Glaube unbegrenzt sei, könnten nicht vermischt werden. Wissenschaft mache Beobachtungen, aus denen sie etwas ableite. Die Beobachtung sei schon subjektiv - und daher stimme der Absolutheitsanspruch, den Wissenschaftler haben, "nicht so ganz". Wörners Fazit: Wissenschaft ist keine Religion.

"Mit die anregendsten Tage meines Lebens" erlebte der Schriftsteller Daniel Kehlmann ("Die Vermessung der Welt") bei seinem Besuch in der Wissenschaftswelt, wobei sein Interesse der Kosmologie und der Quantenphysik galt, wie er in dem von Thorsten Moos, Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) Heidelberg, moderierten Gespräch berichtete. In der Ausgangsfrage des DAI-Projekts erkannte er ein methodisches Problem, weil es sich hier um zwei komplett getrennte Sphären handele. Wissenschaftlichkeit könne auch zu einer "Quasi-Religion" werden, doch seien Wissenschaft und Religion grundsätzlich Gegensätze. Für einen Kompromiss plädierte sein Kollege Michael Maar: Man könne den Begriff Religion durch das Wort "Metaphysik" abschwächen. Für ihn sei es "unendlich aufschlussreich" gewesen, mit "Hardcore-Physikern" über das Thema zu reden.

Wie Frau und Mann

Die Autorin Kathrin Passig, Bachmann-Preisträgerin von 2006, besuchte das Max-Planck-Institut für Astronomie auf dem Königstuhl, fand ihr Praktikum dort hinsichtlich der Antworten auf die Frage, ob Wissenschaft die neue Religion sei, eher unergiebig: "Man hat mir von der Frage abgeraten." Gedanken zu Ästhetik und Raum waren Gegenstand der zweiten Gesprächsrunde "Intimacy and Intuition", moderiert von Russ Hodge, Wissenschaftsautor am Berliner Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin. Die italienische Schriftstellerin Michela Murgia betonte die Differenzierung von Religion als eine private Sache und Wissenschaft, die als etwas angesehen werde, das öffentlich ist.

Sie sprach von einem dialektischen Verhältnis, "das man nicht aufheben, sondern fortbestehen lassen sollte." Für den amerikanischen Schriftsteller Ben Marcus, der das DKFZ und das EMBL besuchte, beherbergt Religion "das Unbeschreibliche". Sein englischer Kollege Tim Parks, der unter anderem mit dem Heidelberger Psychiater und Philosophen Thomas Fuchs Gespräche führte, zitierte dessen spannende Erfahrung, dass das Bewusstsein über die Grenzen des Kopfes hinausgehe, was wunderbar sei, "wenn auch nicht ganz der Himmel".

Nach einer Videoeinspielung von Szenen des Theaterstücks "Und wann kommen die Elefanten?", eines eher literarisch-theatralischen Ansatzes, erläutert von der Autorin und Tänzerin Judith Kuckart, beschloss eine Gesprächsrunde mit langen Monologen von Viktor Jerofejew (Russland) und Colm Tóibín (Irland) den Abend. Jerofejew, ein führender russischer Schriftsteller, nannte eine griffige Formel: Für ihn sei Religion eine Frau und Wissenschaft ein Mann, und die Beziehung beider sei wichtig für den Ausgleich des Lebens. Sein Kollege und Freund Tóibín, der etwa im Zentrum für Quantendynamik unterwegs war, hat seine Gespräche mit Wissenschaftlern erzählerisch in dem Text "Der Philosophenweg" wiedergegeben - ein Spaziergang durch Raum und Zeit.

Fi Info: "Wissenschaft - die neue Religion? Literarische Erkundungen". Hrsg.: Jakob J. Köllhofer. Mattes Verlag, Heidelberg 2016. 255 S., 18 Euro.