Markus Gisdol: "Wir dürfen nie vergessen, wo wir herkommen"

Vor dem Spiel gegen Borussia Dortmund spricht Markus Gisdol über seine steile Trainerkarriere, das Verhältnis zu Jürgen Klopp und die nahe TSG-Zukunft

29.04.2015 UPDATE: 30.04.2015 06:00 Uhr 5 Minuten, 33 Sekunden

In Zuzenhausen im Dialog: Gisdol mit RNZ-Sportchef Joachim Klaehn. Foto: APF

Von Joachim Klaehn

Zuzenhausen. Für Hoffenheims Markus Gisdol hat sich der Traum von der großen Fußballbühne erfüllt. Der 45-jährige Geislinger begann seine Trainerkarriere in der Kreisliga B bei der TSG Salach, seit 2. April 2013 ist er der Cheftrainer der TSG 1899 in der Bundesliga. Seinen steilen Aufstieg hat Gisdol seiner Fachkompetenz, Fußballbesessenheit und seinem Ehrgeiz zu verdanken. Am Samstag (15.30 Uhr) empfängt der Kraichgauklub in der ausverkauften Sinsheimer Rhein-Neckar-Arena den Bayern-Bezwinger Borussia Dortmund. Vor dem Knüller gegen die Schwarz-Gelben ließ Gisdol im RNZ-Interview keinerlei Zweifel zu, dass seine Mannschaft alles dafür tun wird, um erstmals in der Vereinshistorie die Europa League zu erreichen.

Herr Gisdol, Sie haben nach dem 2:1 in Hannover sehr ausgelassen gejubelt. Welches Gefühl hat sich in Ihrem Kopf mit zeitlichem Abstand manifestiert?

Wir sind gut aufgetreten. Es war vielleicht der ungünstigste Zeitpunkt, dort zu spielen. Wir hatten 300 Fans im Rücken – gegen 46 000 Leute im Stadion. Wir mussten also in dieser Partie sehr eng zusammenrücken und haben uns buchstäblich eingeschworen auf das, was uns erwartete. Daran gilt es anzuknüpfen.

In der Liga ist es bis auf die ersten vier Plätze eng und spannend. Eine These: Platz 6 oder 7 wäre für die TSG am Ende eine schöne Überraschung, Platz 8 oder 9 keine Enttäuschung. Einverstanden?

Ich will mich nicht festlegen auf Tabellenplätze. Wir haben eine aktuelle Situation, aber auch eine Gesamtsituation. In den letzten zwei Jahren haben wir es alle zusammen geschafft, als Verein wahrgenommen zu werden, der für eine klare Spielidee, für Seriosität und Kontinuität steht. Es ist eine tolle Saison, wenn wir nichts mit dem Abstieg zu tun haben; es ist toll, wenn wir fester Bestandteil der Bundesliga sind; und es wäre ein Geschenk, wenn wir die Europa League erreichen.

Und was ist mit der von Ihnen erwähnten Gesamtsituation?

Wir sollten weiter mit der notwendigen Bescheidenheit und Bodenständigkeit an die Sache herangehen. Eigentlich sind es sechs Teams mit Bayern, Wolfsburg, Gladbach, Leverkusen, Schalke und Dortmund, die über ganz andere Möglichkeiten verfügen. Wir dürfen nie vergessen, wo wir herkommen, wir brauchen eine realistische Einschätzung der Situation sowie des Gesamtpakets.

In der Hannoveraner Stadionzeitung stand als Titel über dem Hoffenheim-Porträt: "Glücklich im Niemandsland". Als Trainer, Spieler und Sportler ist man doch ambitioniert. Ärgert Sie das?

Wir können gerne mal in Hannover anrufen, ob sie mit uns tauschen wollen (lacht). Glauben Sie mir: Wir sind unglaublich ehrgeizig und arbeiten hart daran, vorwärts zu kommen. Natürlich nehmen wir alles mit, was kommt. Aber es geht darum, realistische Ziele zu formulieren und nicht irgendwelche Sprüche hinaus zu posaunen. Das tun wir nicht.

Geht Ihnen das Gerede über Europa auf den Keks?

Nein, ich verstehe schon, dass man danach fragt. Doch es gibt die interne Ebene und eine nach außen. Nach wie vor heißt unser Ziel Platz 8 bis 12. Warum sollen wir also mitten drin unser Saisonziel korrigieren? Wenn wir mehr erreichen, wäre dies phänomenal.

Ihre öffentliche Trainergeschichte begann – überspitzt formuliert – am 18. Mai 2013 mit dem 2:1 gegen Borussia Dortmund, Ihre tatsächliche 1997 in der Kreisliga B bei der TSG Salach. Erdet Sie das nach wie vor?

Ein guter Begriff, ja, das erdet. Man weiß mit vielen außergewöhnlichen Momenten anders umzugehen. Ein realistischer Zugang ist doch, sich klar zu machen, in welch außergewöhnlichem Umfeld wir uns bewegen. Mir kommt sicherlich meine familiäre Basis mit zu Gute. 2013 war ich ja schon rund 15 Jahre lang Trainer, ich konnte bei anderen Stationen meiner Trainerkarriere in Ruhe alles ausprobieren. Es war ein brutal harter Weg für mich.

Sind Sie unabhängiger als andere, weil Sie Holzprodukte vertrieben und den Trainerjob lange Zeit nebenbei ausgeübt haben?

Ich bin gelernter Holz-Großhandelskaufmann und lange zweigleisig gefahren, weil das Trainergehalt nicht für den Lebensunterhalt gereicht hätte. Ich habe einfach als Trainer versucht, so weit wie möglich zu kommen. Und irgendwann konnte ich mein Hobby zu meinem Beruf machen. Das war zu 100 Prozent eine Entscheidung des Herzens.

Zu Beginn Ihrer Bundesliga-Trainerkarriere soll Ihr Verhältnis gerade zu Jürgen Klopp recht angespannt gewesen sein. Wie haben Sie es beidseitig verbessert?

Wir kannten uns gar nicht. Ich war als Trainer ein unbeschriebenes Blatt, habe mir aber nichts gefallen lassen. Ich habe eine sehr hohe Meinung von Jürgen, und er hat meiner Mannschaft und unserer Arbeit in Hoffenheim unglaublich viel Wertschätzung entgegengebracht. Jürgen ist kein Leisetreter, aber er ist unbestritten ein großartiger Trainer, dem es gelungen ist, beinahe jedes seiner Worte mit Erfolgen zu bestätigen.

Klopp hat den BVB maßgeblich geprägt und gilt als "Rampensau". Welchen Typ verkörpern Sie?

Ottmar Hitzfeld fand ich immer sehr gut. Seinen Umgang mit den Spielern und der Öffentlichkeit empfand ich als vorbildlich. Seine Statements sind immer sehr analytisch und immer geprägt von einem großen Respekt für den Gegner.

Sie sind eher zurückhaltend und wägen jedes Wort genau ab.

Zumindest in meinem externen Auftreten. Aber man entwickelt sich, auch als Trainer, und lernt stets etwas dazu.

Was sagen Sie zum selbstbestimmten Abschied von Klopp?

Ich habe große Achtung vor dieser Entscheidung, auch wie sie gemeinsam mit dem Verein getroffen wurde. Jürgen war offen und ehrlich – er hat sich einen solchen Abschied verdient.

Jetzt dürfen Sie es verraten: Hatten Sie diese Saison konkrete Angebote von anderen Klubs?

Es gab Angebote, aber sie waren nicht ausschlaggebend dafür, dass es sich etwas mit der Vertragsverlängerung hinausgezögert hat.

Dennoch: Sie haben gut nachgedacht. Welche Beweggründe gab es, bei der TSG bis 2018 zu verlängern?

Es gab sportliche und familiäre Aspekte, die in gutem Einklang sein müssen. Die Vision ist, den Verein zu etablieren und zu stabilisieren, attraktiven Fußball zu bieten, das Spielsystem und unsere Nachwuchsspieler weiterzuentwickeln. Diese Möglichkeit habe ich bei keinem anderen Verein so gesehen. Das sind alles Dinge, die gut zu mir passen.

Wie wichtig war das Wohlfühl-Kriterium in der Region?

Sehr wichtig. Meine Tochter hat gleich zu mir gesagt: ‚Du brauchst gar nicht überlegen!‘ Meine Familie wohnt unverändert im Schwäbischen, in der Nähe von Zuzenhausen haben wir unseren zweiten Wohnsitz. Meine Frau und meine beiden Kinder sind fast jedes Wochenende da, wir haben ein schönes Haus mit viel Grün und Wald in der Nähe. Direkt neben uns liegt ein Bauernhof, da haben wir mit den Nachbarn unlängst in einem alten Ofen Pizza gebacken. Auch so etwas spielt eine Rolle.

Sind Sie guten Mutes, dass Sie mit Ihrem Team hinter dem Team in der gleichen Formation weitermachen können?

Das war klarer Inhalt von den Vertragsgesprächen. Ich bin zuversichtlich, dass wir mit dem kompletten, bisherigen Stab die Zukunft gestalten können.

Bis 2018 ist im Fußball ein unüberschaubarer Zeitraum. Existiert ein Stufenplan für die nähere Zukunft?

Selbstverständlich basteln wir bereits am Kader für die neue Saison. Das ist immer spannend, man freut sich dann auf das Neue. Sie können davon ausgehen, dass wir eine gute Mannschaft haben werden. Aber zunächst mal gilt die volle Konzentration den abschließenden vier Spielen dieser Saison.

Und wenn Sie sich für die Europa League qualifizieren?

Das hat so gut wie keinen Einfluss, höchstens auf die Kadergröße. Und es ist hypothetisch. In vier Wochen wissen wir schon mehr.

Sehen Sie eine Chance, Roberto Firmino und/oder Kevin Volland zu halten?

Wir sprechen hier von zwei außergewöhnlichen Spielern, die sich in den letzten beiden Jahren noch einmal unheimlich entwickelt haben und zu Nationalspielern geworden sind. Beide haben noch zwei Jahre Vertrag bei der TSG. Uns ist jedoch klar, dass sie sich mit ihren Leistungen für andere Vereine interessant gemacht haben. Auch hier muss man abwarten und sollte bei dieser Diskussion eines nicht vergessen: Der entscheidende Faktor für die Leistungsentwicklung von einzelnen Spielern ist immer die Mannschaftsleistung.

Am Samstag steigt das Big-Point-Spiel gegen den BVB um Platz sieben. Was erwartet "Hoffe" mental und emotional?

Ich hoffe auf einen Hexenkessel in Sinsheim. Das Stadion soll richtig brennen! Ich kann versprechen, dass wir alles tun werden, um dieses Spiel zu gewinnen. Im Pokal waren wir ja schon ganz nah dran. Gegen den BVB wird es alleine durch die Duelle in der jüngsten Geschichte immer ein besonderes Spiel sein.

Was kann ein Dorfklub wie Hoffenheim generell erreichen?

Im Fußball sind außergewöhnliche Situationen kein Maßstab. Entscheidend ist, dass wir es als großes Glück empfinden, stabil in der Bundesliga zu sein und zu bleiben. Und die Topmannschaften immer wieder attackieren.

Reicht das für eine nationale Wahrnehmung? Viele sagen, als Hoffenheim 2012/2013 gegen den Abstieg spielte, war das der emotionale Höhepunkt.

Wissen Sie, in Köln hat mir ein Feuerwehrmann im Stadion gesagt: ‚Wie ihr spielt, das ist richtig geil!‘ Das hat mir gefallen. Wir wollen attraktiven und schönen Fußball spielen – und uns über die Spielweise definieren. Mein Eindruck ist, dass die Leute dies wahrnehmen und honorieren, auch wenn wir ihnen nicht in jedem Spiel ein Spektakel bieten können.

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