1899 Hoffenheim hat bei den Bayern Dusel

Glücklich, aber nicht einmal unverdient holen die kessen "Nagelsmänner" einen Punkt in München und sorgen weiter für Furore

06.11.2016 UPDATE: 07.11.2016 06:00 Uhr 2 Minuten, 47 Sekunden

Mitten rein ins Herz der Bayern: Hoffenheims Kerem Demirbay (r.) trifft in den Winkel, Manuel Neuer bleibt nur das Staunen. Foto: Imago

Von Joachim Klaehn

München. Es sah wie selbstverständlich aus, dass Carlo Ancelotti und Julian Nagelsmann im tribünenhaften Presseraum der Allianz Arena nebeneinander saßen. Dabei trennen die beiden 28 Lebensjahre - und unzählige Titel. Der Respekt für den jüngsten Bundesliga-Coach dürfte übers Wochenende noch erheblich größer geworden sein. Denn der junge Mann, der beim FC Issing in der oberbayrischen Fußball-Provinz sozialisiert wurde, entführte beim ruhmreichen FC Bayern München mit seiner TSG 1899 Hoffenheim einen Punkt. Das am Ende glückliche, aber nicht unverdiente 1:1 (1:1) basierte auf keinem Hokuspokus, sondern auf einem akribisch ausgearbeiteten Matchplan, den die kessen Hoffenheimer Protagonisten weitgehend umsetzten.

Und es passte zur Dramaturgie, dass das viel zitierte Bayern-Dusel diesmal in den beschaulichen Kraichgau weitergereicht wurde. Die spektakuläre Schlussphase mit den beiden Aluminiumtreffern von Mats Hummels (87.) und von FCB-Ikone Thomas Müller (90.+2) ließ den deutschen Rekordmeister vollends an sich selbst zweifeln und verzweifeln. Doch Signore Ancelotti aus Reggiolo, der Sohn eines Milch- und Käsebauern, blieb nach dem dritten Remis seines internationalen Starensembles cool und zumindest äußerlich gelassen. "Wir haben gegen ein wirklich, wirklich gutes Team gespielt", sagte Ancelotti. Ein Satz wie ein Ritterschlag für den daneben sitzenden Nagelsmann und seine "Jungs", die ihm auch beim Branchenkrösus unbedingte Gefolgschaft leisteten.

Nadelstich und Geniestreich

Gemessen nach den Eindrücken vom Samstagnachmittag muss mit "Hoffe" in dieser Spielzeit gerechnet werden. Vor allem in der ersten Hälfte bewegten sich die Gäste vor 75.000 Augenzeugen im voll besetzten "Schlauchboot" auf höchstem Niveau. Wie sehr sie die Bayern piesackten, war an deren Körpersprache und Diskussionsfreudigkeit abzulesen. Ob Lewandowski, Robben, Costa, Thiago, Alonso oder Vidal, sie konnten nicht - wie x-fach exerziert - die Fäden spinnen. Die Wege ins Zentrum blieben ihnen versperrt. Kevin Vogt, "Turm in der Schlacht", und seine Nebenleute leisteten hier Außergewöhnliches.

Bemerkenswert und bezeichnend, dass den "Roten" kein eigener Treffer gelang. Stattdessen zauberten einmal die Hoffenheimer. Vogts öffnender Traumpass landete bei Nadiem Amiri, der auf Kerem Demirbay zurücklegte und gegen den Präzisionsschuss in den linken Winkel zum 0:1 (16.) hatte sogar ein Hexer wie Manuel Neuer keine Chance. "Es sah spektakulär aus", schmunzelte Demirbay hernach in der Mixed Zone, "ich wollte den Ball gegen Neuers Laufrichtung aufs Tor bringen." Ein Nadelstich war’s - und noch dazu ein Geniestreich in Bayern-Manier. Halb so wild, dass der haushohe Favorit zum Ausgleich kam und es dabei der Unterstützung von Steven Zuber bedurfte. Costas scharfe Hereingabe bugsierte der Schweizer mit Wucht zum Ausgleich (34.) ins eigene Gehäuse. "Ich sehe, dass Lewandowski kommt und grätsche halt rein. Ich konnte da nicht mehr überlegen, wie ich kläre", trug Zuber das Missgeschick mit Fassung.

Verbesserungspotenzial sahen die selbstkritischen Hoffenheimer vor allem hinsichtlich ihres Auftritts in der zweiten Hälfte. Die Dominanz der Bayern wurde zunehmend erdrückender, den "Nagelsmännern" gelang es kaum mehr, für Entlastung zu sorgen. "Wir haben nicht unser bestes Spiel gezeigt, aber eben auch gegen den besten Gegner der Liga gespielt", sagte Nagelsmann. Immer wieder versuchte der 29-Jährige seine Akteure gestenreich zu animieren, zur hilfreichen Pressinghöhe der ersten 45 Minuten zurückzufinden. Vergeblich - nachdem Publikumsliebling Müller zusätzlich in die FCB-Abteilung Attacke beordert wurde, musste sich die TSG "fast zwangsläufig aufs Verteidigen besinnen", wie Nagelsmann leicht grantelte.

Es entspricht nicht seiner Fußballphilosophie, das Heft des Handelns weitgehend aus der Hand geben zu müssen. "Es ist schön, dass der liebe Gott die beiden Pfosten ein Stück weit nach innen gerückt hat", sagte Nagelsmann augenzwinkernd über die beiden Fast-Tore von Hummels und Müller.

Insgesamt freilich flogen die Hoffenheimer mit einem Lächeln nach Hause. Sie haben vor der Länderspielpause ihren Tabellenplatz drei gefestigt und vor den Augen der Fußballnation bewiesen, dass sie sich nicht mal vor dem Giganten FC Bayern fürchten müssen. All jene, die sich verwundert über Hoffenheim und den jungen "Emporkömmling" Nagelsmann die Augen reiben, müssen ihr klischeehaftes Bild über die "Plastikklubs" RasenBallsport Leipzig und TSG 1899 Hoffenheim wohl bald korrigieren. "Ich sehe eine gute Entwicklung und habe das Gefühl, dass meine Mannschaft sehr hungrig ist", zog Nagelsmann nach zehn ungeschlagenen Spieltagen eine vielversprechende erste Zwischenbilanz nach erfolgter Reifeprüfung in München.

Die Gefahr, dass der bodenständige Bursche aus Issing abhebt, besteht nicht. Er hat der TSG eine klare Handschrift verpasst und wusste nach seiner Profitrainer-Premiere in der Bastion der Bayern nur allzu gut, dass ein Punktgewinn bei den Allerbesten im Land alles andere als eine Selbstverständlichkeit darstellt. Auch gelegentliches "Dusel" ist das Ergebnis von detailversessener Arbeit.

Hintergrund

So spielten sie:

Baumann: Das Glück des Tüchtigen. Insbesondere bei den Schüssen von Hummels und Müller. Machtlos beim 1:1 - vom eigenen Schweizer Gardisten Zuber bezwungen und getunnelt.

Kaderabek: Bester

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So spielten sie:

Baumann: Das Glück des Tüchtigen. Insbesondere bei den Schüssen von Hummels und Müller. Machtlos beim 1:1 - vom eigenen Schweizer Gardisten Zuber bezwungen und getunnelt.

Kaderabek: Bester Zweikämpfer (71 Prozent) der TSG. Marschierte ordentlich. Bei den finalen Pässen fehlte ihm aber die letzte Präzision.

Süle: Hängte sich voll rein. Steht vor einer tollen Zukunft. Angeblich hat ihn Bayern auf dem Notizzettel stehen. Sein Lieblingsklub soll aber ManU sein.

Vogt: Bester Feldspieler. Souverän, dynamisch, schnell - sein Steilpass war vom Feinsten.

Hübner: Inzwischen zurecht gesetzt. Wegen einer lästigen Erkältung zur Pause rausgenommen.

Zuber: Als "Stürmer" in der Verteidigerrolle. Gab alles und fiel direkt nach dem Abpfiff vor Erschöpfung um. Pechvogel, weil Eigentorschütze.

Demirbay: Eine der Entdeckungen. Techniker mit viel Übersicht. Kunstschuss zu "Hoffes" Führung. Zum Schluss ging auch ihm die Puste aus.

Rudy: Sehr versiert. Nicklige Duelle mit Vidal. Rieb sich auf, deswegen gelang ihm ein Tick zu wenig in der Spieleröffnung nach vorne.

Amiri: Tolle Torvorbereitung. Zollte mitunter seiner Unerfahrenheit gegen abgezockte Bayern-Stars Tribut.

Kramaric: Okay bis zur Pause. Von ihm hätte man sich mehr Entlastungselemente in der Drangphase der Bayern nach dem Seitenwechsel gewünscht.

Wagner: Behauptete den Ball mit viel Hingabe vor den Augen seiner Münchner Familie. Konnte sich nicht entscheidend durchsetzen. Wenn Kaderabek (90.+3) länger auf ihn wartet …

Rupp: Amiri-Ersatz. Sollte mehr Ballbesitz und Stabilität reinbringen.

Bicakcic: Kam für Hübner. Als Abräumertyp ständig gefordert.

Vargas: Schlampig bei einem gefährlichen Konter. Warum bei ihm nicht der Knoten platzt, bleibt ein Rätsel. jog

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