Prozess um tödlichen A6-Unfall

Notbremssystem gibt weiter Rätsel auf

Funktioniert oder versagt? - Daimler-Mann: "System war zum Unfallzeitpunkt definitiv eingeschaltet und hat fehlerfrei funktioniert"

25.01.2019 UPDATE: 26.01.2019 06:00 Uhr 2 Minuten, 35 Sekunden

Zwei Menschen tot, elf verletzt - das war die traurige Bilanz des Unfalls im Juni 2017. F: prie

Von Alexander Albrecht

Mannheim. Ein Lkw kracht am späten Nachmittag des 9. Juni 2017 auf der Autobahn A6 bei Mannheim-Sandhofen mit 85 km/h ungebremst gegen ein Stauende. Zwei Menschen sterben, elf weitere werden verletzt. Wie konnte das geschehen? An dieser Frage beißt sich das Amtsgericht Mannheim seit Ende vergangenen Jahres die Zähne aus.

Auf der Anklagebank sitzt der 33-jährige Lasterfahrer, dem wegen fahrlässiger Tötung und Körperverletzung bis zu vier Jahre Haft drohen. Es geht aber auch darum, ob das eingebaute Notbremsassistenzsystem ABA 3 des Lkw-Herstellers Daimler versagt hat.

Das Schöffengericht unter dem Vorsitz von Gabriele Schöpf hört am Freitagmorgen bereits den fünften Mitarbeiter des Konzerns. Geladen ist der Leiter des Bereichs Sicherheit und Assistenzsysteme. Gleich zu Beginn der Befragung stellt der Mann zwei Dinge klar. "Nach den Ergebnissen unserer Auswertungen war das System zum Unfallzeitpunkt definitiv eingeschaltet und es hat fehlerfrei funktioniert", sagt er.

Hätte es eine Störung gegeben oder das Gerät gestreikt, "wäre uns das hinterher beim Auslesen des Speichers angezeigt worden". Die Wahrscheinlichkeit eines Ausfalls des ABA 3 beziffert die Führungskraft auf "unter ein Prozent". Was den Fall nun rätselhaft macht: Der Fahrer behauptet, den Stau zunächst nicht erkannt zu haben. Dann habe der Bremsassistent plötzlich rot geblinkt und laut gepiept. "Ich habe mit voller Kraft gebremst", so der Angeklagte, "aber die Autos waren schon ganz dicht vor mir". Eventuell habe er zu lange in den Außenspiegel geschaut und sei dadurch abgelenkt gewesen.

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Laut dem technischen Sachverständigen hat der Fahrer jedoch zwischen den Warnungen und dem Aufprall dreieinhalb Sekunden lang nicht reagiert. Wenn dem so ist, warum ist in dieser Zeit nicht der Bremsassistent angesprungen? Im Normalfall drosselt die Technik das Tempo um die Hälfte. "Und wenn der Fahrer dann immer noch nichts macht, kommt es zur Vollbremsung", sagt am Freitag der Daimler-Mann.

Beides ist jedoch nicht geschehen. Möglicherweise habe der Fahrer keine Zeit verstreichen lassen und unmittelbar nach den optischen und akustischen Signalen gebremst oder auszuweichen versucht, erklärt der Konzernmitarbeiter. "Das ist aber eine Mutmaßung." Schon zehn Prozent der Pedalkraft reiche aus, um dem System zu signalisieren, dass der Lkw-Lenker wieder Herr am Steuer ist. Allein: Bremsspuren des Lasters sind auf der Fahrbahn nicht entdeckt worden.

Ein für die Programmierung der Software bei Daimler zuständiger Ingenieur hatte an einem früheren Verhandlungstag ein anderes Szenario ins Spiel gebracht. Danach arbeite der ABA 3 mit Radar. Erkenne dieser ein Objekt nicht sicher, leite das System auch keine Notbremsung ein. Wenn etwa an einem Stauende zwei Autos auf derselben Höhe genau nebeneinander stünden oder ein Fahrzeug plötzlich einscheren würde, verwischten sich die Informationen für den Radar, der ja kein Bild wahrnehme, sondern aus den gemessenen Daten - Geschwindigkeit und Abstand - das Aufprallrisiko berechne.

Einen Systemfehler wollte das der Ingenieur nicht nennen, stattdessen sprach er von einer "Systemgrenze". Sein Daimler-Kollege sagt am Freitag, dass bei Testfahrten in 20 Prozent der Fälle diese Grenze erreicht worden sei. "Von einem vergleichbaren Unfall wie diesem hier habe ich aber noch nichts mitbekommen", beteuert er. Der Abteilungschef verweist auf eine Studie des Konzerns, in der 90.000 Lkw mit Daimler-Bremssystemen untersucht wurden, die innerhalb von zwei Jahren insgesamt zwölf Milliarden Kilometer zurückgelegt hatten.

Dabei habe der technische Assistent rund 11.000 Mal bis zur Notbremsung eingegriffen. In wie vielen Fällen es dennoch zu Unfällen gekommen sei, kann die Führungskraft nicht sagen. Derweil hat Daimler dem Gericht auf Anfrage weitere Unterlagen zukommen lassen, die der Kfz-Sachverständige bis zum nächsten Termin am Freitag, 15. Februar, auswerten will.

Zu Beginn der Verhandlung überrascht die Vorsitzende Richterin mit der Nachricht, sie sei kurz zuvor von einem politisch engagierten Anwalt über ein Gerücht informiert worden, das bereits Kreise ziehe. Danach liege gegen das Schöffengericht eine Strafanzeige vor. Von wem genau, sagt Schöpf nicht. Das Gerücht kursiere bis in Ministerien hinein. "Falls da was dran ist, kann man das als versteckte Drohung auffassen", sagt Schöpf. Bei der Staatsanwaltschaft Mannheim ist jedoch keine Anzeige eingegangen. Auch die Anwälte der Nebenklage und des Lkw-Fahrers schütteln den Kopf und wollen nicht vorstellig geworden sein. "Wir haben definitiv keine Strafanzeige gestellt", sagt zudem ein Sprecher der Daimler AG.

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