Das Wunder von Perm oder ein Grieche in Russland zeigt, wie Mozart geht
Er ist der Champion dieser Opernsaison: Teodor Currentzis dirigiert "Figaro" und setzt neue Maßstäbe.

Es gibt unzählige "Figaro"-Aufnahmen, aber die ultimative Platte ist nicht dabei. Mal ist es das Sängerensemble, dann das Orchester. Mal sind es die Tempi, dann die Rezitative. Das Ideal als optimales Zusammenwirken perfekter Einzelteile ist eine fixe Idee: Aber sehr, sehr nahe kommt diesem jetzt eine Einspielung aus Perm. Ein schieres Wunder.
Perm? Hinter der östlichsten Stadt Europas gibt es nur noch russische Taiga. Im 19. Jahrhundert eine reiche Bergbau-Metropole, stand dort im Sowjetreich eine geheime Waffenschmiede und Perm hieß "Molotow". Nach der Wende vegetiert die Millionenstadt dahin, bis der neue Gouverneur beschloss, seine Kommune ins Bewusstsein Europas zurückzubringen: mit Kultur.
Man suchte einen Außenseiter als Generalmusikdirektor und fand den Griechen Teodor Currentzis. Dieser hatte in St. Petersburg studiert und war in Nowosibirsk aufgefallen. Doch er mochte nur nach Perm kommen unter zahlreichen Bedingungen: Sein eigenes Orchester wollte er mitbringen und auch sonst vieles auf den Kopf stellen. Man ließ ihn gewähren und legte einen Blankoscheck auf den Tisch. Innerhalb kurzer Zeit krempelte Currentzis das Musikleben der Stadt um: Die erste Oper "Così van tutte" schlug ein wie ein Blitz. Die russische Presse jubelte: "Wir müssen jetzt nicht mehr nach Salzburg fahren!"
Nun legt Currentzis seine erste CD-Produktion vor: "Figaro" ist eine Sensation und schlägt vieles um Längen. Warum? Weil Currentzis ganz von vorn anfängt, ihm die historische Halbbildung vieler Musiker nicht genügt und die Cracks der Historischen Aufführungspraxis nicht konsequent genug sind. Dabei kommt Currentzis selbst nicht aus einer der Hochburgen historischer Musikforschung. Aber er liest sehr genau den Notentext.
Dieser Dirigent scheint wahnsinnig, bedenkt man, welche Widerstände solche Haltung provoziert, und er ist ein Genie, weil es ihm offenbar gelingt, alle zu überzeugen. Und: Diese Aufnahme ist eine Kampfansage an das musikalische Establishment, das es sich zwischen historischen Halbwahrheiten und vorschnell akzeptierten Realitäten, also mit faulen Kompromissen zwischen Spezialistentum und Opernalltag bequem macht.
"Mozarts Werk klingt immer groß, und deshalb ignorieren viele Interpreten die Details", sagt Currentzis im Booklet zur CD. Oder: "Die Solisten gewöhnten sich daran, den Notentext annäherungsweise zu singen." Das sagt einer, der es ernst meint. Denn bei dieser Studioaufnahme geschieht nichts "annäherungsweise". Da wird musiziert im Bewusstsein, dass bei Mozart jede Note einen Sinn macht - und wer wollte das bezweifeln?
Dynamisch und agogisch werden dabei ganz neue Register gezogen: Das Forte ist ein Blitzerschlag, die rhythmische Präzision auf der einen und die metrische Flexibilität auf der anderen Seite sind von radikaler Direktheit und packender Spontaneität.
Lebendiger, emotionaler, detailtreuer und konsequenter wurde Mozart nie gesungen - und vor allem gespielt. Das ist, trotz ausgezeichneter Vorgänger, ein neuer Maßstab in der Mozart-Interpretation. Das Klischee vom klassischen Ebenmaß ist nun jedenfalls endgültig dahin.
Das alles kommt nicht von ungefähr. Das Orchester "MusicAeterna" spielt mit Barockbögen auf Darmsaiten, mit zeittypischen Blasinstrumenten und Pauken. Die Streicher klingen direkt und manchmal rau. Hier ist klanglich nichts von "russischer Schule" übrig geblieben. Die Bläser - einige sind aus Westeuropa eingeflogen - bringen auch in der rasant schnellen Ouvertüre noch Stakkati zuwege. Die Intonation des gesamten Apparats ist auf diese abgestimmt.
Das Klangbild ist äußerst differenziert und bis in Nuancen transparent. Sänger und Musiker hören aufeinander und artikulieren entsprechend. "Ich verwende diese Instrumente, weil sie besser klingen. Wäre ich der Meinung, diese Musik klingt besser auf elektrischen Gitarren, würde ich sie auf elektrischen Gitarren spielen." Man glaubt's ihm prompt.
Erstaunlich ist auch der Hammerflügel unter den Händen von Maxim Emelyanychev, der sowohl die Rezitative begleitet, als auch die Arien und Ensembles unterstützt. Improvisierend leitet er so fantasievoll vom einen zum anderen über, dass man die Übergänge manchmal gar nicht bemerkt. Das ist grandios - und höchst intelligent: Mozart selbst dürfte das bei Aufführungen nicht anders gespielt haben. Niemand vermutete ausgerechnet in Russland solche einfühlsamen und inspirierten Spezialisten! Das wird Schule machen.
Neben dem Sopranstar Simone Kermes, die die Gräfin singt, sind die übrigen Solisten weniger bekannt: Andrei Bondarenko (Graf), Fanie Antonelou (Susanna), Christian Van Horn (Figaro), Mary-Ellen Nesi (Cherubino) und andere vermeiden jeden großen Opernton, singen aber mit außerordentlicher Vitalität und im engen Kontakt mit Orchester und Continuo. Es ist eine wahre Freude, das zu hören und macht endlich wieder Platz im Schrank. Denn einige ältere Aufnahmen kann man nun ohne schlechtes Gewissen einfach schreddern.
Info: Mozart: Le Nozze di Figaro. Orchester und Chor der Oper Perm, Ltg. Teodor Currentzis. Sony Classical.