1899 Hoffenheim

"Immer 18, 20 Beine im Weg"

Das Stuttgarter Abwehrbollwerk bringt beim Landesderby die "Nagelsmänner" zur Verzweiflung

06.05.2018 UPDATE: 07.05.2018 06:00 Uhr 2 Minuten, 42 Sekunden

Effektiver Vollstrecker: Mario Gomez trifft zum 1:0. Oliver Baumann ist ohne Chance. F.: APF

Von Joachim Klaehn

Stuttgart. Es lässt sich heftig darüber debattieren, ob am Samstagnachmittag der VfB Stuttgart mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln die TSG 1899 Hoffenheim bezwungen hat - oder ob sich die Kraichgauer letztendlich selbst geschlagen haben. Tatsache ist: "Hoffe" handelte sich beim 2:0 (1:0) für den "Vau-eff-Bee" eine unnötige, ärgerliche und schmerzhafte Niederlage im Landesderby ein, die lediglich dadurch erträglicher wurde, das die unmittelbaren Konkurrenten um den dritten und vierten Champions-League-Platz ebenfalls keine Bäume am vorletzten Spieltag ausrissen.

Rupp erleidet Kreuzbandriss

TSG-Cheftrainer Julian Nagelsmann und sein Funktionsteam erlitten am Spielfeldrand Höllenqualen. Insbesondere in der 19. Minute: Da lag urplötzlich Lukas Rupp, ohne gegnerische Einwirkung, auf dem Rasen - und irgendwie ahnte jeder in der mit 58.312 Zuschauern ausverkauften Mercedes-Benz Arena, dass etwas Schlimmes passiert sein musste. Der TSG-Mittelfeldspieler wurde mit der Bahre vom Feld getragen, möglichst schnell in die Stuttgarter Sportklinik gebracht und schon gegen Ende der Partie bestätigte sich die niederschmetternde Diagnose: Kreuzbandriss!

Hintergrund

Wenn die einen nicht wollen und die anderen nicht können

Nach einer guten halben Stunde wurde es laut in der Mercedes-Benz Arena. Und das, obwohl der Ball auf dem Stuttgarter Rasen gerade gar nicht rollte. Auf der Anzeigetafel blinkte der neue

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Wenn die einen nicht wollen und die anderen nicht können

Nach einer guten halben Stunde wurde es laut in der Mercedes-Benz Arena. Und das, obwohl der Ball auf dem Stuttgarter Rasen gerade gar nicht rollte. Auf der Anzeigetafel blinkte der neue Zwischenstand aus Frankfurt auf: 1:0. Für die Eintracht gegen den HSV. Es mag eine natürliche Reaktion des Publikums gewesen sein, weil viele offenbar nichts gegen den ersten Abstieg überhaupt des seit Jahren darbenden Dinos aus der Hansestadt hätten. Dennoch musste der neutrale Beobachter staunen ob der Begeisterung, die nicht minder zum Ausdruck kam, als der zweite Frankfurter Treffer in Bad Cannstatt verkündet wurde. Schließlich spielt der VfB längst nicht mehr gegen den Abstieg und könnte sogar noch auf einen Europapokalplatz rutschen. Nicht der HSV, sondern vielmehr Tabellennachbar Frankfurt heißt dieser Tage eigentlich der Schwaben-Kontrahent. Der Verdacht liegt also nahe, dass beim Aufsteiger die Lust auf internationale Abenteuer in der kommenden Saison gar nicht so groß ist.

Ganz anders bei der TSG. Auch wenn es für "Hoffe" zugegebenermaßen um reizvollere Dienstreisen geht, Duelle gegen Real statt Razgrad winken. Von "gemischten Gefühlen" berichtete Kapitän Kevin Vogt nach dem enttäuschenden 0:2. Schließlich habe man einerseits eine große Chance vertan, die Königsklasse schon am vorletzten Spieltag zu erreichen. Andererseits "haben wir nun am Samstag das Endspiel, das wir uns vor ein paar Wochen alle gewünscht haben". Nadiem Amiri schlug in die gleiche Kerbe: "Das ist für jeden Fußballer das Geilste - wir haben ein Finale gegen Borussia Dortmund, was gibt es Schöneres!?"

Die unterschiedlichen tabellarischen Ambitionen im Ländle spiegelten sich auf dem Rasen wider: Die einen, die Weißen mit dem roten Brustring, wollten gar nicht. Und die anderen, die wollten, konnten nicht - genau so sahen die 90 Minuten dann auch aus. Aberwitzige 25 zu sechs Torschüsse zählten die Statistiker. "Die letzten 20 Minuten standen die ja mit neun Mann im eigenen Strafraum - Wahnsinn", haderte Julian Nagelsmann.

Was der TSG-Trainer wohl gedacht haben mag, als VfB-Coach Tayfun Korkut während der Pressekonferenz behauptete, wegen Spielen wie diesem "lieben wir alle den Fußball"? Eine gewagte These, wenngleich es dem 44-jährigen Deutsch-Türken eher um die Unvorhersehbarkeit der Ergebnisse ging. Dass sich der spielerisch arg limitierte VfB unter Korkut zum Europapokal-Anwärter gemausert hat - und dass sich die TSG an den schwäbischen Maurermeistern die Zähne ausbiss - ist wenig schmeichelhaft für die Gesamtbewertung der Bundesliga. Zumal sich auch "Hoffes" Widersacher aus Dortmund und Leverkusen seit Wochen eher nach Europa stolpern als spielen. So wie sich die hochbegabten Borussen gegen Kellerkind Mainz von ihrem Heimpublikum verabschiedeten, könnte man glauben, die Schwarz-Gelben hätten kein gesteigertes Interesse daran, ihren dritten Platz zu behalten. "Die sind nicht gut drauf", diagnostizierte Amiri aus der Ferne zutreffend: "Ich glaube, wir können sie packen."

Die Ausgangslage ist simpel: Gewinnt die TSG mit mehr als einem Tor Vorsprung, überflügelt sie den BVB und wird Dritter. Der 21-jährige gebürtige Ludwigshafener kann das finale Kräftemessen jedenfalls kaum erwarten: "Wir haben jetzt schon wieder Bock auf Samstag", sagte Amiri nur wenige Minuten nach dem Abpfiff in Stuttgart.

Doch sollten am Samstag erneut diejenigen, die zweifelsohne wollen, nicht können - dann bleibt den 1899-Anhängern nur noch die Hoffnung, beim Blick auf die Anzeigetafel jubeln zu dürfen. Werden dort mehrheitlich Tore von Hannover 96 in Leverkusen angezeigt, würde es reichen für Rang vier - und mit Sicherheit auch in der Rhein-Neckar-Arena richtig laut werden.

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Es taugte leider zum Sinnbild eines - zumindest aus Sicht der Hoffenheimer - gebrauchten Tages. "Für Ruppi tut es mir leid. Er hatte sofort Schmerzen, so etwas ist einfach schlimm", zeigte TSG-Kapitän Kevin Vogt danach in den Katakomben Empathie. Die Szene wirkte wie ein Schock für die badischen Gäste - und die Momente der Nachdenklichkeit und Desorientierung nutzte der heimstarke VfB mit gnadenloser Effizienz aus. Die Koproduktion von Christian Gentner und Mario Gomez zum 1:0 (25.) spielte der schwäbischen "Maurerinnung" von Capo Tayfun Korkut in die Karten. "Wir haben das, was uns in den letzten Wochen stark gemacht hat, einfach durchgezogen", sagte Pragmatiker Korkut, der den Roten aus Bad Cannstatt einen ganz nüchternen Stil eingeimpft hat. Der VfB funktioniert in der Bundesliga-Rückrunde wie ein Hochdruck-Reiniger von Kärcher auf Knopfdruck. "Vorne abstauben, hinten sauber bleiben", stand auf einem Gegentribüne-Werbeslogan, der wie die Faust aufs Auge zur Spielweise der Korkut-Schützlinge passt. Mit Kehrwochen-Attitüden kennt man sich gewöhnlich in der Landesmetropole aus.

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"Mit der Verletzung von Lukas gab es einen Bruch in unserem Spiel", analysierte Nagelsmann seinerseits die Dramaturgie eines Derbys, das spielerisch wie fußballerisch viele Wünsche offen ließ. Nicht einmal der Platzverweis von Santiago Ascacibar (65.) brachte das fleißige Stuttgarter Putzkommando in die Bredouille. Im Gegenteil: VfB-Rückkehrer Mario Gomez setzte mit dem 2:0 (74.) nach einem Konter den entscheidenden Nadelstich. "Das ist ein schöner Tag nicht nur für mich, sondern für uns alle", sagte Gomez über die Kaltschnäuzigkeit des VfB, der aus zwei sich bietenden Großchancen zwei Treffer produzierte.

Hintergrund

Einzelkritik:

Baumann: Keine Paraden, aber zweimal geschlagen. Kein Spiel für einen Torhüter.

Akpoguma: Unglücklich vorm 0:1. Konnte auch beim 0:2 Gomez’ Haken, den Nagelsmann "schon 4,7 Millionen mal gesehen

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Einzelkritik:

Baumann: Keine Paraden, aber zweimal geschlagen. Kein Spiel für einen Torhüter.

Akpoguma: Unglücklich vorm 0:1. Konnte auch beim 0:2 Gomez’ Haken, den Nagelsmann "schon 4,7 Millionen mal gesehen hat", nicht verteidigen.

Vogt: Leitete mit seinem Fehlpass im Spielaufbau das zweite Gegentor ein.

Nordtveit: Knick in der eigentlich ansteigenden Formkurve.

Rupp: Erlebte ein Drama an alter Wirkungsstätte: Kreuzbandriss.

Schulz: Auffälligster TSGler. Ihn sollte der Bundestrainer genau anschauen.

Grillitsch: Solide nach seiner Gelbsperre.

Zuber: Erst Zentrum, dann Außenbahn, dann Kabine. Gebrauchter Tag.

Amiri: Stets bemüht. Braucht mal wieder ein Erfolgserlebnis.

Uth: Doppelchance aus wenigen Metern nach wenigen Minuten. Ohne Fortune.

Kramaric: Hob sich mindestens zwei Tore, die Nagelsmann versprochen hatte, offensichtlich für Dortmund auf.

Zulj: Früh für Rupp im Spiel, ohne bleibenden Eindruck.

Szalai: Kam für Nordtveit. Pfosten-Pech.

Hack: Übernahm für Zuber. (nb)

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Freilich auch mit tatkräftiger Unterstützung des Dorfklubs: Beim 1:0 hatte sich Kevin Akpoguma nach einem Flankenball von Gentner in der Box verschätzt, dem 2:0 ging ein Abspielfehler von Vogt und eine übermotivierte Grätsche von Akpoguma im Eins-gegen-Eins mit Gomez voraus, der seine ersten beiden Heimtore seit dem Winter-Transfer von Wolfsburg nach Stuttgart feiern durfte.

Streng genommen hatten die diesmal lauen Blauen den 18. Landesgipfel auf Erstliga-Level bereits in den ersten 20 Minuten "verloren". Hoffenheim vermasselte nämlich sechs, sieben hochkarätige Chancen durch Uth, Kramaric und Amiri. "Das war schon bitter. Wir müssen diese tausend- und hundertprozentigen Dinger einfach reinmachen", benannte Nadiem Amiri die hauptsächliche Malaise. Da passte es ins triste Bild, dass Adam Szalai (79.) nur den Außenpfosten traf und sein Kopfballtreffer (81.) wegen Abseitsstellung - korrekterweise - nicht gegeben wurde. Als objektiver Chronist musste man vor Ort den Eindruck gewinnen: "Hoffe" hätte vorgestern noch eine halbe Stunde mehr gegen den überragenden VfB-Torhüter Ron-Robert Zieler und eine kompakte Defensive anrennen können und der Ball wäre nicht im Netz gezappelt.

"Da waren immer 18, 20 Beine im Weg", sagte Nagelsmann treffend über das kettenartig aufgezogene Abwehrbollwerk der Hausherren. Ohne zündende Ideen und finale, präzise Pässe blieb es schwierig bis unmöglich, diesen Riegel zu knacken. So wurde "Hoffe" schließlich weggeputzt …

Wie die Lage der Liga, hinsichtlich des Kampfes um die Königsklasse, denn vor dem Saisonabschluss am Samstag einzuordnen sei, wurde Nagelsmann in der Pressekonferenz gefragt. "Gut, oder!?", reagierte Nagelsmann genervt. Und ergänzte in Sortierungslaune: "Es ist als Hoffenheim nicht so schlecht, vor Leverkusen zu stehen - und Dortmund nicht so weit weg vor sich zu haben."

Der TSG-Trainer ließ nach dem ersten vergebenen Matchball seiner Mannschaft Gnade walten. Beim zweiten am 12. Mai im Sinsheimer Stadion müssen Vogt und Co. ergebnistechnisch exakt wie gleichzeitig Bayer Leverkusen gegen Hannover 96 spielen. Das reicht zur Krönung der bisherigen Vereinshistorie …

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