Verwaltungsgerichtshof lässt alle ratlos zurück
Das Gericht möchte die Sperrzeit-Satzung für die Altstadt kippen. Die Richter machen aber keine Vorgaben für Kneipen-Öffnungszeiten.

Vor 23 Uhr diskutieren und lachen Nachtschwärmer in der Unteren Straße miteinander. Nach Mitternacht ist die ausgelassene Stimmung in der Altstadt jedoch ein Ärgernis für viele Anwohner. Foto: Philipp Rothe
Von Holger Buchwald
Heidelberg. Die Richter werden den Kommunalpolitikern die Entscheidung nicht abnehmen: Schon bald wird sich der Gemeinderat wieder mit den Themen Lärm und Kneipenöffnungszeiten in der Altstadt beschäftigen müssen. Bei der gestrigen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof in Mannheim stellte Else Kirchhof, die Vorsitzende des sechsten Zivilsenats, klar, dass es in der Altstadt zu laut ist und die derzeitige Sperrzeitsatzung wohl keinen Bestand haben werde. Die endgültige Entscheidung werde noch vor Ostern bekannt gegeben. Dem Flehen und Bitten der städtischen Vertreter, doch konkrete Uhrzeiten für akzeptable Sperrzeiten zu nennen, um weitere Rechtsstreitigkeiten zu vermeiden, konnte und wollte Kirchhof aber nicht nachgeben.
Momentan dürfen die Altstadtkneipiers ihre Gäste werktags außer donnerstags bis 2 Uhr und am Wochenende sowie in der Nacht zum Freitag bis 4 Uhr bewirten. Doch diese Regelung ist den Klägern, den Altstadtbewohnern Adelheid und Nikolai Wessendorf sowie Wolfgang Ditscheid, zu liberal. "Ab 1 Uhr nachts reisen auswärtige Besucher an, um in der Heidelberger Altstadt zu trinken", beschrieb Adelheid Wessendorf den Richtern ihren Alltag. Es sei nicht so sehr der Lärm, der aus den Kneipen dringe, sondern die Gäste, die vor der Tür auf Einlass warteten oder lautstark von Bar zu Bar zögen und so den Anwohnern den Schlaf raubten. Viele Kneipengänger kämen schon betrunken in Heidelberg an, mit Flatrate-Angeboten machten viele Wirte "die Altstadt zum Ballermann", klagt Wessendorf. Viele Aktive der Bürgerinitiative "Leben in der Altstadt" sowie Bezirksbeirat Gerd Guntermann waren für den Prozess nach Mannheim gekommen. Unter den Zuschauern waren aber auch Wirte, die die Schilderungen der Kläger für Übertreibungen halten.
Während es Ende der 1980er Jahre noch 87 Gaststätten in der Altstadt gab, seien es nun mehr als 170. "Unser Problem sind die Sperrzeiten. Wir schlafen nachts nicht mehr", sagt Wessendorf. Als Anwohnerin sei es ihr schwergefallen, den Klageweg zu bestreiten. "Wir haben viele Gespräche geführt, auch mit Barbesitzern." Doch die Situation habe sich immer weiter verschärft. Den Rechtsweg habe man auch im Interesse anderer Altstädter beschritten. "Viele Menschen stehen hinter uns."
Gleich mehrmals betonte Richterin Kirchhof gestern: "Wir sind uns alle einig, dass es in der Altstadt nachts zu laut ist." Lärmmessungen des Büros "Genest und Partner" haben ergeben, dass die Richtwerte der Technischen Anleitung Lärm (TA Lärm) erheblich überschritten werden. Werner Finger, der Anwalt der Wessendorfs, nannte konkrete Zahlen: 75 bis 88 Dezibel seien an den unterschiedlichen Punkten gemessen worden, laut TA Lärm wären nach 22 Uhr im Wohngebiet nur 40 erlaubt. Finger: "Wir wissen alle, dass ein Anstieg von zehn Dezibel als eine Verdoppelung des Lärms empfunden wird." Bei der Arbeit müsste man angesichts solcher Werte einen Hörschutz tragen.
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Dem Anwalt der Stadt, Jürgen Behrendt, kam die undankbare Aufgabe zu, die bestehende Sperrzeitsatzung zu verteidigen. Und das, obwohl die Verwaltung das Lärmproblem ernst nimmt und dem Gemeinderat ursprünglich eine viel strengere Sperrzeitsatzung von werktags 1 Uhr und am Wochenende 3 Uhr vorgeschlagen hatte. Da die Stadträte sich darüber hinweggesetzt hatten, muss nun das Gericht entscheiden. "Wir wollen eine Letztentscheidung des Senats", flehte Behrendt die Richter an, doch bitte konkrete, akzeptable Sperrzeiten zu nennen. Und Steffen Brucker vom Rechtsamt fügte hinzu: "Für uns wäre schon wichtig, was wir dem Gemeinderat zur Entscheidung vorlegen sollen." Doch Kirchhof konnte dem städtischen Vertreter hier nicht weiter helfen. Der Verwaltungsgerichtshof könne nur über die Rechtmäßigkeit oder Unrechtmäßigkeit der bestehenden Satzung urteilen. "Wir können ihnen keine Maßstäbe an die Hand zu geben. Wenn der Gemeinderat nicht will, wird es schwierig." Den Stadträten obliege es, die Interessen der Wirte, der Kneipengänger und der Anwohner gegeneinander abzuwägen. Kirchhof: "Wir können nur sagen, was nicht geht."
Gemischt fielen die Reaktionen auf die gestrige Verhandlung aus. Bürgermeister Wolfgang Erichson freut sich, dass der Verwaltungsgerichtshof den Spielraum, den der Gemeinderat hat, hoch bewertet. Das sei eine Bestätigung für das Primat der Politik. Jetzt sei es Sache der Verwaltung, einen tragfähigen Kompromiss zu finden. Erichson denkt dabei an Sperrstunden von 1 oder 2 Uhr werktags und 3 Uhr am Wochenende. Auch Melanie von Görtz, Geschäftsführerin des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbandes (Dehoga), ist mit der Verhandlung zufrieden und zeigte sich kompromissbereit. "Die Gastronomie konnte mit den alten Sperrzeiten, die bis 2014 galten, gut leben." Damals war unter der Woche um 2 Uhr und samstags sowie sonntags um 3 Uhr Schluss.