Albert Speer

Legenden und Lügen um einen vermeintlich "guten Nazi"

Der Historiker Magnus Brechtken entlarvt Albert Speer – Stilistisch hervorragend und moralisch sehr verdienstvoll

05.07.2017 UPDATE: 22.07.2017 06:00 Uhr 2 Minuten, 54 Sekunden

Von Harald Loch

Die Richter in Nürnberg hätten es wissen können - sie ließen sich von einem vorgetäuschten Einverständnis mit dem umstrittenen Tribunal einwickeln. Eine Generation von Nachkriegshistorikern hätte es wissen können - wenn sie in die Quellen gesehen hätten. Die ganze, durchaus an dieser Personalie interessierte Welt ist von Albert Speer an der Nase herumgeführt worden, als hätte es den von ihm gespielten "guten Nazi" geben können. Er habe nichts gewusst von den Verbrechen der Nazis.

Über Jahrzehnte hielt sich dieses Bild des genialen Architekten und Rüstungsorganisators, der zum engsten Führungs- und Insiderkreis um Hitler gehörte. Am Ende habe er sogar die befohlene Selbstzerstörung der verbliebenen Rest-Industrie des niedergerungenen Nazireiches verhindert. Ein in sich nicht einmal schlüssiges Lügengewebe hat gegenüber der seriösen "wissen- schaftlichen" Geschichtsschreibung und auch dem investigativen Journalismus über viele Jahre gehalten. Dabei hätte kein Staatsanwalt ihm sein unplausibles Märchen abgenommen.

Am Ende, eigentlich erst nach Speers Tod, kam alles langsam heraus. Der 1964 geborene Magnus Brechtken, stellvertretender Direktor des Instituts für Zeitgeschichte und Münchner Professor, entlarvt jetzt mit einem groß angelegten Werk die Lügengeschichten und prangert das Versagen von Wissenschaft und Journalismus in scharfen Tönen an. "Eine deutsche Karriere" lautet der Untertitel des auf intensivem Quellenstudium und zeitgeschichtlicher Forschung basierenden Buches.

Seine "Hauptangeklagten" neben Speer selbst sind der Mitautor seiner Bücher und Speer-Biograf Joachim Fest und sein Verleger Wolf Jobst Siedler. Vor und nach ihnen plapperten alle den von Speer selbst vor dem Nürnberger Kriegsverbrechertribunal vorgegebenen Tenor nach. Das hatte Speer zu damals "milden" 20 Jahren Freiheitsstrafe im Spandauer Kriegsverbrecher-Gefängnis verurteilt, die er bis auf den letzten Tag verbüßt hat. Begnadigungsinitiativen von deutschen Politikern, auch von Willy Brandt, scheiterten sämtlich am Widerstand der veto-berechtigten Sowjetunion.

Aus dem Gefängnis heraus bereitete Speer sein Leben in Freiheit mit herausgeschmuggelten Kassibern vor, ließ bei namhaften Unterstützern mehrere Hunderttausend D-Mark auf einem sogenannten Schulgeldkonto für seine Frau und die sechs Kinder einsammeln und verpflichtete vor allem seinen ehemaligen leitenden Mitarbeiter Rudolf Wolters zu Stillschweigen.

Brechtken teilt sein stilistisch hervorragend durch das Leben Speers und die Zeitgeschichte führendes Buch in zwei Teile: Im ersten beschreibt er Speers Leben und Wirken bis 1945, im zweiten seine Legenden und Lügen danach und die - unfreiwilligen - Helfer bei deren Verbreitung. Die wesentlichen Abweichungen von der Wirklichkeit sind so gravierend, dass ihm in Nürnberg wahrscheinlich auch die Todesstrafe gedroht hätte.

Von der Verfolgung der Juden habe er nichts gewusst, hatte der auch als Nachfolger Hitlers gehandelte Speer wie ein Mantra wiederholt. Tatsache ist, dass er Tausende von "Juden-wohnungen" in Berlin "freimachen" ließ, um Bombengeschädigte und auch Funktionäre, denen er sich verpflichtet fühlte, unterzubringen. Die entmieteten Juden kamen ausnahmslos in Konzentrationslager. Bei der Erweiterung von Auschwitz arbeitete Speer intensiv mit Himmler zusammen - nicht nur beim Ausbau des Barackenlagers, sondern auch bei dem Aufbau der umliegenden Betriebe, in denen die KZ-Häftlinge arbeiteten. Die unsägliche Posener Rede Himmlers hat er als Vorredner mit angehört und den verbrecherischen Aufruf zum Judenmord mitbekommen. Die in einem Stollen im Harz untergebrachte V2-Fabrik Dora Mittelbau hat er initiiert und besichtigt.

Andere Lügen erscheinen eher als "lässliche" Sünden - so die frisierten Rüstungszahlen bis ins Jahr 1945 und die Mär von dem Aufbau der Neuen Reichskanzlei für Hitler in nur einem Jahr. Hitler hatte aus Propagandazwecken diese "einmalige" Leistung deutscher Ingenieure und Bauarbeiter erfunden, und Speer hat sie zeitleben beibehalten. Diese Lüge diente Speer dazu, ihn als genialen Architekten und Organisator darzustellen, der gar keinen Sinn für die politischen Zusammenhänge hatte.

Das alles ließen ihm, der seine oft in seinem Heidelberger Haus empfangenen Gesprächspartner ebenso wie die Nürnberger Richter einzuwickeln vermochte, Wissenschaft und Öffentlichkeit über Jahrzehnte durchgehen. Zu den Getäuschten zählten auch in Opferkreisen anerkannte Persönlichkeiten wie Simon Wiesenthal und Robert Kempner, die ihm gleichsam "Persilscheine" ausstellten. So nannte man die oft gefälligen Leumundszeugnisse in den Entnazifizierungsverfahren nach dem Kriege.

Einem solchen musste sich Speer nie stellen, weil der Eröffnungsbeschluss ihm im Spandauer Gefängnis nie zugestellt wurde. So konnte auch sein Vermögen nicht in einem Sühneverfahren eingezogen werden, das er bis 1945 angehäuft hatte. Nach seiner Freilassung kamen dann Honorare in Millionenhöhe für seine Buchveröffentlichungen und Nebenrechte in aller Welt hinzu.

Jedenfalls ist Speer nie entnazifiziert worden. Magnus Brechtkens unendlich verdienstvolles Buch zeigt sehr deutlich, dass Speer einer der Hauptverantwortlichen für die Verbrechen der Nazis und die unsinnige Verlängerung des Krieges war und entschuldigt ihn - endlich - nicht länger.

Info: Magnus Brechtken: Albert Speer. Eine deutsche Karriere, Siedler, München 2017, 910 S., 40 Euro.