Schriesheim

300 Besucher bei Gedenkveranstaltung zur Pogromnacht

"Schweigen ist Komplizenschaft": Was die Ereignisse vor 87 Jahren heute noch lehren.

11.11.2025 UPDATE: 11.11.2025 04:00 Uhr 2 Minuten, 14 Sekunden
Die Initiative „Gemeinsam für Demokratie“ hatte an die Besucher Kerzen verteilt. Diese ergaben, am Stadtbrunnen aufgereiht, ein eindrucksvolles Bild des Gedenkens. Foto: kis

Von Kirsten Seubert

Schriesheim. Allein die Wortwahl ist menschenverachtend: "Die Juden wurden gestern auch hier von rauer Hand aus ihrem beschaulichen Dasein aufgeschreckt. Glücklicherweise haben wir hier nur noch ungefähr ein halbes Dutzend in Schriesheim: Ihre Synagoge wird künftig nicht mehr ihr Gemauschel hören", so schrieb das "Hakenkreuzbanner", die NS-Zeitung für den Landkreis Mannheim, am 11. November 1938 über die Schändung des jüdischen Gotteshauses in der Lutherischen Kirchgasse. Tags zuvor hatten Hitlerjungen sich von der Vermieterin den Schlüssel zur Synagoge besorgt, die Kronleuchter von der Decke gerissen, die Bänke raus auf den Hof geschafft, wo das meiste verbrannt wurde. Die Thorarolle schmiss man in Ladenburg in eine Kiesgrube.

Das berichtete Professor Joachim Maier vor zweieinhalb Jahren bei einem Rundgang – um zu verdeutlichen, dass die Reichspogromnacht kein fernes Ereignis war, sondern dass der Mob unter den Augen vieler Schriesheimer auch hier wütete.

Etwa 300 Schriesheimer kamen am Samstagabend zum Gedenken an die Reichspogromnacht vor 87 Jahren zusammen, Hauptredner war Pfarrer Klaus Müller (links). Foto: kis

Am 9. November wird bundesweit der Zerstörung von Synagogen vor 87 Jahren gedacht, in Schriesheim war man einen Tag früher, am Samstag, dran. Wohl an die 300 Menschen kamen wie bereits in den beiden Vorjahren ans alte Rathaus – natürlich auch Maier. Die Schätzung stammt von Patrick Schmidt-Kühnle, der 100 Kerzen verteilt hatte, am Ende hatte etwa nur jeder Dritte eine in der Hand. Später wurden die am Stadtbrunnen abgestellt – ein würdiger und feierlicher Anblick.

Bürgermeister Christoph Oeldorf dankte der Initiative "Gemeinsam für Demokratie", dass sie die Gedenkveranstaltung "zum finstersten Teil unserer bisherigen Geschichte" organisiert hatte. Denn: "Diese Nacht war der Anfang und endete in Leid, Hass, Tod und Mord – auch an Bürgern und Bürgerinnen aus Schriesheim." Oeldorf wünschte sich eine gemeinsame, und friedliche Zukunft, für die es sich zu kämpfen lohne. Daran knüpfte Margrit Liedloff von "Gemeinsam für Demokratie" an. Sie griff den staatlich organisierten Terror von damals auf und schlug eine Brücke zu heute: "Wenn wir der Opfer von 1938 gedenken, dann tun wir das nicht nur rückwärtsgewandt. Wir tun es, weil wir wissen, dass überall dort, wo Menschen – gleich welcher Gruppe sie angehören – Grausamkeiten erfahren, ausgegrenzt, erniedrigt oder entrechtet werden – ob in Europa, im Nahen Osten oder anderswo – der Schatten jener Nacht wieder aufscheint." Die AfD, so Liedloff, spreche oft von ihrem unaufhaltsamen Vormarsch. Doch die Realität sehe anders aus: "In den vergangenen Wochen hat die AfD – trotz aller markigen Worte – bei keiner der 16 Bürgermeisterwahlen in Brandenburg gewonnen."

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Noah Lichtenstein und Marie-Lou Pfrönder vom Kurpfalz-Gymnasium lasen die Namen der jüdischen Opfer aus Schriesheim vor, ihre Mitschüler Friedrich und Lea umrahmten das an Cello und Klavier. Gastredner Pfarrer Klaus Müller sprach eindringliche Worte: "Die Polarisierung und Radikalisierung von rechts, gegen Menschen, die sich für Demokratie und Vielfalt einsetzen, spüren wir! Dass Medien Hass verbreiten, spüren wir! Wo bleibt da unser Kompass?" Und, eine Parallele zu 1938: "Wegsehen ist nicht neutral, Schweigen ist Komplizenschaft."

Das Erinnern sei die aktive Form der Verantwortung, "es ist praktizierte Demokratie, was wir heute tun". Erinnern sei ein Ausdruck der Solidarität: "Wir werden wieder und wieder die Namen vorlesen, ihnen ein Stück Leben zurückgeben." Gewalt dürfe nicht verharmlost werden, Hetze gegen Migranten, gegen demokratische Institutionen müsse bekämpft werden: "Demokratie ist bunt, es sind Mitmenschen, egal welcher Vielfältigkeit oder Herkunft."

Das Zauberwort ist Empathie, also das Mitfühlen mit anderen: Elon Musk, der gesagt hatte: "Die grundlegende Schwäche der westlichen Kultur ist Empathie", setzte Müller Hannah Arendt gegenüber: "Der Tod der menschlichen Empathie ist eines der frühesten Zeichen, dass eine Kultur gerade in die Barbarei fällt." Den Tod der Empathie konnte man an jenem 9. November 1938 auch in Schriesheim erleben.

(Der Kommentar wurde vom Verfasser bearbeitet.)
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