"Stuttgart 21 kann nur noch an sich selbst scheitern"

Stuttgart. RNZ-Interview mit Winfried Hermann: Knapp ein Jahr nach dem Volksentscheid beschäftigt den Verkehrsminister das Milliardenprojekt noch immer

22.11.2012 UPDATE: 22.11.2012 05:00 Uhr 3 Minuten, 52 Sekunden
Winfried Hermann (Grüne). Foto: dpa
Von Andreas Böhme und Roland Muschel, RNZ Stuttgart

Stuttgart. Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) bezweifelt den S-21-Fahrplan der Bahn massiv. Dass der Kostendeckel hält, glaubt er ohnehin nicht. Weitere Zahlungen des Landes lehnt er aber ab. Knapp ein Jahr nach dem Volksentscheid vom 27. November 2011 beschäftigt ihn das Milliardenprojekt noch immer mehr als ihm lieb ist.

Vor einem Jahr hat der Volksentscheid ein klares Votum für Stuttgart 21 erbracht. Wie war das für Sie?



Ich hatte mich von Anfang an mit der Möglichkeit auseinandergesetzt, dass die Mehrheit der Bevölkerung anders entscheiden kann als man es selbst für gut hält. Mir war auch klar, dass meine Arbeit danach so oder so schwieriger wird. Wenn wir gewonnen hätten, hätte ich auch Stress gehabt – mit den Befürwortern, mit der Bahn, vielleicht hätte es einen Prozess gegeben. Trotzdem ist es an so einem Abend hart und bitter, eine Niederlage anerkennen zu müssen. Das einzig Gute an dem Entscheid war, dass er in jeder Hinsicht eindeutig war – es gab im Land, aber auch in Stuttgart selbst eine Mehrheit gegen den Ausstieg des Landes aus der S-21-Finanzierung.

Mit einem Jahr Abstand: Haben die Gegner, auch Sie, Fehler gemacht?

Ich glaube nicht, dass ich persönlich gravierende Fehler gemacht habe. Tatsache ist aber auch, dass die politischen Freiräume des grünen Teils der Landesregierung im Abstimmungskampf begrenzt waren. Ich habe immer darauf hingewiesen: Wer den Volksentscheid gewinnen will, muss an einen Erfolg glauben. Leider gab es zu viele, die daran gezweifelt haben. Ich habe auch zu Leuten, die jeden Montag in Stuttgart demonstriert haben, gesagt: Lasst dieses Ritual, fahrt lieber raus ins Land und klärt dort die Menschen auf. Das haben zu wenige getan. Das war ein großes Versäumnis.

Sie waren erst eine Art S-21-Verhinderungsminister. Nun müssen Sie das Projekt mit verwirklichen. Wie schafft man so eine Wende?

Wer sich als Regierung einer direktdemokratischen Entscheidung unterwirft, muss auch das Resultat umsetzen. Ich war in der Politik schon oft in einer Minderheitenposition. Ich musste als Pazifist ertragen, dass die Grünen den Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan beschließen. Ich habe aber nie kategorisch gesagt, wenn ich mich nicht durchsetze, mache ich nicht mehr mit. Das wäre auch ein seltsames Demokratieverständnis.

Klingt sehr demokratietheoretisch.

Es ist natürlich eine professionelle Herausforderung besonderer Art, wenn sie ein Großprojekt an der Backe haben, dass sie ständig beschäftigt. Wenn sie sehen, dass man viel Geld ausgibt für ein falsches Projekt. Das tut weh.

Einstige Mitstreiter haben Sie als "Verräter" beschimpft, die Befürworter sehen in Ihnen weiter den S-21-Verhinderungsminister. Wie lebt es sich zwischen allen Stühlen?

Das Anerkennen von Mehrheiten ist doch kein Verrat. Wer so denkt, hat ein ziemlich gestörtes Politik- und Demokratieverständnis. Die Bürgerbewegung gegen Stuttgart 21 hat immer gerufen: Wir sind das Volk! Jetzt hat das Volk in seiner Mehrheit anders entschieden. Einige wollen nun nicht erkennen, dass sie nur Teil des Volkes sind und nicht für alle sprechen. Die Demokratie erlaubt auch, dass Mehrheiten Unsinn beschließen.

Und was sagen Sie der Opposition?

Keiner kann von mir erwarten, dass ich dieses Milliarden-Projekt kritiklos begleite. Die Bevölkerung hat sich mehrheitlich unter der Maßgabe der Einhaltung des Kostendeckels von 4,5 Milliarden Euro gegen den Ausstieg des Landes aus Stuttgart 21 ausgesprochen. Ich tue nun alles mir Mögliche, damit es bei der Umsetzung mit rechten Dingen zugeht und die Kosten im Rahmen bleiben. Das ist keine Verhinderungstaktik, das ist mein Job im Sinne der Bürger und Steuerzahler.

Selbst für den Koalitionspartner SPD sind Sie weiter ein rotes Tuch.



Die SPD-Fraktion im Landtag ist mit diesem Projekt so verwoben wie die CDU. Gemessen an dem großen Misstrauen, was ich anfangs gespürt habe, ist das Verhältnis zu den meisten SPD-Fraktionären inzwischen ziemlich kollegial. Für die Koalition hat dieser Volksentscheid befriedend gewirkt. Ich kann aber nicht damit rechnen, dass mir die SPD im Landtag Beifall klatscht, wenn ich kritische Punkte des Projekts aufliste. Aber ich spüre auch, dass es für den ein oder anderen Genossen schwer ist, weiter für ein Projekt zu sein, das so teuer und schwierig ist und so langsam vorangeht.

Sie hadern mit dem Ausgang des Volksentscheids?

Ich hadere nicht mit dem Volksentscheid. Ich hadere mit den Problemen des Projekts und seinen ausufernden Kosten.

Klingt, als würden Sie nicht an die Realisierung glauben?

Mein Albtraum ist, dass Stuttgart 21 immer später kommt und dabei immer teurer wird. 2012 geht zu Ende und wir halten uns immer noch mit Vorbereitungsmaßnahmen auf. Teile der Neubaustrecke sind nicht einmal planfestgetellt. Bevor es richtig losgeht, ist der Risikopuffer offiziell weitgehend verbraucht. Aber ich habe nach dem Volksentscheid keine Legitimation, das Projekt noch zu kippen. Es kann nur noch an sich selbst scheitern oder an den Auftraggebern Bahn und Bund.

Der Kostendeckel hält nicht?

Der Kostendeckel ist erreicht oder schon überschritten. Das kann die Bahn nicht mehr lange verbergen. Dann muss das DB-Management eine Risikowarnung an den Aufsichtsrat aussprechen.

Laut Vertrag müssen die Projektpartner über die Verteilung von Mehrkosten gegebenfalls sprechen.



Natürlich werden wir mit der Bahn sprechen – und sagen: Mehr Geld zahlt das Land nicht!

Die Bahn interpretiert die Sprechklausel anders.

Über kurz oder lang wird es auf eine gerichtliche Klärung der Sprechklausel hinauslaufen. Dass die Bahn selbst eine gerichtliche Prüfung in den Raum stellt, zeigt, dass sie nicht mehr an den Kostendeckel glaubt. Sie argumentiert, dass auch Mehrkosten wie bei einem normalen Vertrag aufgeteilt werden müssen. Aber es ist eben kein normaler Vertrag. Dass das Land 980 Millionen Euro freiwillig für die Finanzierung von Stuttgart 21 übernimmt, ist eine Besonderheit. Aus einem Geschenk kann man nicht ableiten, dass ständig weitere Geschenke folgen müssen.

Ihre Prognose: Wann wird Stuttgart 21 eingeweiht?



Die Bahn hat für den Bau des zehn Kilometer langen Katzenbergtunnels im Rheintal, der dem Aufstieg vom Stuttgarter Hauptbahnhof zum Flughafen entspricht, zehn Jahre gebraucht. Mir ist es ein völliges Rätsel, wie sie einen unterirdischen Bahnhof mit 60 Kilometern unterirdischen Zuläufen und noch mal 60 Tunnelkilometern auf der Strecke nach Ulm in nun weniger als zehn Jahren bewerkstelligen will.

Sie weihen es demnach nicht ein?



Ich glaube, dass wir noch ziemlich lange regieren werden. Aber so richtig vorstellen kann ich mir nicht, dass ich die Einweihung machen werde.

(Der Kommentar wurde vom Verfasser bearbeitet.)
(zur Freigabe)
Möchten sie diesen Kommentar wirklich löschen?
Möchten Sie diesen Kommentar wirklich melden?
Sie haben diesen Kommentar bereits gemeldet. Er wird von uns geprüft und gegebenenfalls gelöscht.
Kommentare
Das Kommentarfeld darf nicht leer sein!
Beim Speichern des Kommentares ist ein Fehler aufgetreten, bitte versuchen sie es später erneut.
Beim Speichern ihres Nickname ist ein Fehler aufgetreten. Versuchen Sie bitte sich aus- und wieder einzuloggen.
Um zu kommentieren benötigen Sie einen Nicknamen
Bitte beachten Sie unsere Netiquette
Zum Kommentieren dieses Artikels müssen Sie als RNZ+-Abonnent angemeldet sein.