"Schwarz-Rot vergeudet wertvolle Zeit"
Experte Stefan Greß kritisiert die schwarz-rote Gesundheitspolitik. Gibt es Infrastrukturmittel für Krankenkassen?



Gesundheitsökonom an der Hochschule Fulda
Von Tim Müller
Berlin. Stefan Greß ist Gesundheitsökonom an der Hochschule Fulda. Im November 2024 sprach er als Experte im Gesundheitsausschuss zu einer Reform des Gesundheitswesens.
Herr Greß, die Bundesregierung will eine Kommission einrichten, die Vorschläge für eine Reform des Gesundheitssystems machen soll. Die Ergebnispräsentation ist für 2027 angesetzt. Dabei haben die Krankenkassen ein milliardenschweres Defizit. Haben wir diese Zeit noch?
Nein. Der Handlungsbedarf ist viel zu hoch. Da muss vorher etwas passieren. Völlig unklar ist zudem, welche neuen Ideen diese Kommission hervorbringen soll. Es liegen Reformvorschläge sowohl für die Einnahmenseite als auch für die Ausgabenseite – teils seit Jahrzehnten – auf dem Tisch. Es geht jetzt um deren Umsetzung.
Warum schafft die Bundesregierung dann ein solches Gremium?
Ich habe den Eindruck, die Regierung will sich hier die unangenehmen Entscheidungen, die zu treffen sind, abnehmen lassen. Meines Erachtens ist diese Kommission vollkommen unnötig. Schwarz-rot vergeudet wertvolle Zeit.
Apropos: Welche Reformen sollte Bundesgesundheitsministerin Nina Warken nun schnell auf den Weg bringen?
Union und SPD haben in ihren Koalitionsvertrag geschrieben, dass sie das Einnahmenproblem der gesetzlichen Krankenversicherung durch eine wirtschaftliche Belebung und die Schaffung von gut bezahlten Arbeitsplätzen lösen wollen. Wenn Schwarz-Rot also mit Wirtschaftsmaßnahmen die Konjunktur beleben will, dann ist das grundsätzlich schon mal gut.
Aber …
Unser Gesundheitssystem hat seit Jahrzehnten ein Einnahmenproblem. Dieses lässt sich heute nicht mehr allein durch wirtschaftspolitische Maßnahmen beheben. Da braucht es tiefgreifende Veränderungen am System selbst, um die Einnahmen der Krankenkassen zu steigern.
Wie sähen die idealerweise aus?
Man könnte beispielsweise die Beitragsbemessungsgrenze entweder deutlich anheben oder ganz abschaffen …
… das ist jene Grenze, die festlegt, bis zu welcher Höhe des Einkommens Beiträge in der Sozialversicherung anfallen …
Genau, momentan liegt diese bei der Kranken- und Pflegeversicherung bei 5512,50 Euro. Einkommen, das über diesem Betrag liegt, wird bei der Beitragsbemessung nicht mehr berücksichtigt. Eine vollständige Abschaffung dieser Grenze würde die Einnahmen der Krankenkassen derart erhöhen, dass der Beitragssatz der gesetzlich Versicherten – je nach Ausgabensituation – um etwa 1,5 Prozentpunkte abgesenkt werden könnte.
Die Union lehnte eine solche Anhebung – oder gar Abschaffung – zuletzt ab. Gerechter wäre sie aber, oder?
Ja, dann würden alle Einzahler prozentual die gleiche Belastung tragen. Momentan werden die oft genannten ‚starken Schultern‘ entlastet, während die Ausgabensteigerung in der Krankenversicherung überproportional von Menschen mit geringen und mittleren Einkommen aufgefangen werden.
Wie sieht es bei den privaten Krankenversicherungen aus?
Privatversicherte müssten in die gesetzliche Krankenversicherung integriert werden. So ließe sich der Beitragssatz der gesetzlich Versicherten um rund einen Prozentpunkt senken. Das gilt allerdings nur für das Szenario, wenn man von einem auf den anderen Tag alle privaten Vollversicherungen abschaffen würde. Das ist aber ein sehr unwahrscheinliches Szenario.
Wieso?
Die Privatversicherer würde gegen ein solches Vorgehen vermutlich klagen. Sinnvoller wäre wohl eine Übergangslösung. Entsprechend würden alte private Vollversicherungsverträge weiterlaufen, aber das Neugeschäft wäre geschlossen. Der Übergangszeitraum wäre aber relativ lang und die finanzielle Entlastung für die gesetzliche Krankenversicherung geringer.
Was wäre Ihrer Meinung noch nötig?
Der Grünenpolitiker Robert Habeck hatte im Wahlkampf Sozialabgaben auf Kapitalerträge ins Spiel gebracht. Das halte ich ebenfalls für eine gute Idee. Das Einnahmenplus für die Krankenkassen unterscheidet sich je nach Rechnung. Aber die zusätzlichen Abgaben würden die Versichertenbeiträge wohl noch mal um etwa einen Prozentpunkt drücken.
Zur Ausgabenseite: Wo müssen wir im Gesundheitswesen effizienter werden?
Die Krankenhausreform ist ein sehr guter Ansatz, weil sie teure Überkapazitäten abbaut und den Patienten eine effizientere und effektivere Behandlung durch Fachzentren ermöglicht. Digitalisierung ist ein wichtiges Stichwort. Da sind wir ein Entwicklungsland. Die E-Akte ist ein guter Anfang, aber wir brauchen noch viel mehr in diese Richtung.
Was halten Sie von dem neuen Primärarztsystem?
Das ist ein sehr guter Schritt, weil Patienten im Moment kaum gesteuert werden in unserem Gesundheitssystem. Das verursacht mehr Kosten, als die gezielte Steuerung der Patienten durch die Hausärzte. Außerdem zahlen wir alle viel zu viel für Arzneimittel. Die Pharmaunternehmen haben da deutlich zu große Spielräume bei der Preisgestaltung. Da müsste ebenfalls nachgebessert werden. In diesem Bereich sind die Ausgaben der Krankenkassen in den letzten Jahren durch die Decke gegangen.
Durch diese Reformen könnte man insgesamt die Beiträge der gesetzlich Versicherten also sogar wieder senken. Glauben Sie, dass Schwarz-Rot irgendetwas davon umsetzen wird?
Nach allem, was ich bisher von unserer neuen Bundesgesundheitsministerin höre, wird das Defizit der gesetzlichen Krankenkassen wie früher mit Steuergeld zugeschüttet. Woher das Geld in der konjunkturell angespannten Lage herkommen soll, ist dabei völlig unklar. Die Gefahr besteht, dass die Regierung hierfür auf Mittel aus dem Infrastrukturprogramm zurückgreift. Allerdings würde diese schuldenfinanzierte Maßnahme auch nur kurz halten. Geht die Bundesregierung diesen Weg, werden mittelfristig die Kassenbeiträge wohl weiter steigen.
Wie lange kann das gut gehen?
Im Moment wird das System noch durch die Zuwanderung von jungen Menschen aus dem Ausland stabil gehalten. Ob das in zehn Jahren noch so funktioniert, kann im Moment niemand sagen. Sicher ist: Unser Gesundheitswesen hat ein auch ein Ausgabenproblem, das zu einem großen Teil auf die gesetzlichen Leistungsausweitungen unter den CDU-Gesundheitsministern Hermann Gröhe und Jens Spahn zurückgeht und nicht durch eine Strukturreform gedeckt war. Das fällt uns jetzt durch die wirtschaftliche Lage auf die Füße.