Von Klaus Welzel
Heidelberg. Während die Corona-Pandemie in der Region so gut wie keine Auswirkungen mehr zeigt, spitzt sich die Lage in den USA zu. Hans-Georg Kräusslich, Chefvirologe am Uniklinikum, hält diese Entwicklung für sehr beunruhigend, wie er in der 18. Folge des RNZ-Corona-Podcasts erläutert.
Prof. Kräusslich, ist es eigentlich denkbar, dass wir gar keinen Impfstoff gegen das Coronavirus bekommen?
Ich persönlich halte es für wahrscheinlich, dass ein wirksamer Impfstoff entwickelt werden kann. Offen ist allerdings, wie schnell das gehen wird, also ob ein Impfstoff – wenn es schnell geht – bis Mitte nächsten Jahres zur Verfügung stehen kann. Und wir wissen natürlich auch nicht, wie gut ein solcher Impfstoff sein wird, ob er alle Geimpften schützt und wie lange er wirksam sein wird.
In den USA wird derzeit massenweise Remdesivir vorbestellt, das die Behandlungsdauer bei Covid-19 verkürzen soll. Ist das ein Zeichen, dass der Glaube in einen schnell zur Verfügung stehenden Impfstoff schwindet?
Sagen wir es so: Wir haben derzeit keinen Impfstoff; wenn wir ein Medikament hätten, mit dem wir die Erkrankten gut behandeln könnten, wäre die Situation deutlich entspannter. Wann ein Impfstoff kommt und wie gut er schützt, wissen wir ja, wie gesagt, nicht. Insofern wären wir sehr froh, ein wirksames Medikament zu haben, um Erkrankte zu behandeln. Remdesivir ist wohl nicht superwirksam, scheint aber die Krankheitsdauer zu verkürzen. Deshalb wird man in den USA beschlossen haben: davon wollen wir möglichst viel haben.
Ist es für uns Europäer in irgendeiner Form beunruhigend, wenn die USA so viel der künftigen Produktion von Remdesivir vorbestellen?
Ja, ich halte das für ein schlechtes Zeichen in Hinblick auf die internationale Solidarität. Im Moment ist klar, dass die USA angesichts der pandemischen Lage mehr Medikamente brauchen als wir, dort gibt es einfach mehr Fälle. Aber es wäre natürlich wesentlich besser, wenn sich die großen Industrienationen darauf verständigen würden, dass sie die Bestände in einer sinnvollen Weise nach Bedarf weltweit zur Verfügung stellen und nicht nach dem "America First"-Prinzip verfahren: ein Land kauft möglichst viel auf, und die anderen sollen sehen, wo sie bleiben. Das gemeinsame und internationale Denken ist aber leider nicht Gegenstand der gegenwärtigen amerikanischen Politik.
Wie schätzen Sie die pandemische Lage in den Vereinigten Staaten angesichts von 50.000 Neuinfektionen an einem Tag ein?
Ich finde es sehr beunruhigend, was dort im Moment passiert; auch in gewisser Weise nicht erwartet. Die frühe Epidemie in den USA lag vor allem daran, dass am Anfang kaum getestet wurde und sich unentdeckt viele Infektionsherde ausbreiten konnten. Angesichts der schlimmen Lage in New York und an der Ostküste wurde dann sehr massiv eingegriffen und die Zahlen gingen seither dort stark zurück. Jetzt gibt es einen erneuten starken Anstieg im Mittleren Westen und in Texas, ganz andere Regionen sind betroffen. Und dies trotz der Tatsache, dass mittlerweile in den USA sehr viel getestet wird, sogar mehr als in Deutschland bezogen auf die Gesamtbevölkerung. Das Virus breitet sich jedoch dort auch im Sommer rasch aus, obwohl nach unseren Annahmen, die ich trotzdem für richtig halte, die Infektionswahrscheinlichkeit im Sommer geringer sein sollte als im Winter. Stattdessen sehen wir einen Anstieg der Infektionen und eine Überlastung der Krankenhäuser zum Beispiel in Texas.
Also ähnlich wie im Frühjahr in Italien?
Auf zehn beatmungspflichtige Patienten kommen aktuell in manchen Kliniken in den USA nur drei freie Beatmungsplätze, das heißt, dass Menschen sterben, weil sie nicht an die Beatmung kommen; eine erneute dramatische Zuspitzung, die wir aber nicht mehr so wahrnehmen, wie vor einigen Monaten, als dasselbe in New York und Bergamo passierte. Diese Entwicklung sollte jeden daran erinnern: Corona ist nicht weg und kann ganz schnell wieder sehr bedeutsam sein. Wir sehen, dass auch in hochentwickelten Industriestaaten das Gesundheitssystem – in den USA allerdings kein sehr effizientes – schnell an seine Grenzen kommt. Das ist wirklich sehr bedenklich.
Ich habe Sie schon oft gefragt, ob Sie in dieses oder jenes Land angesichts der Coronagefahr reisen würden. Wie sähe Ihre Antwort bezogen auf die USA aus?
(atmet tief durch): Die USA sind ein sehr großes Land, insofern ist die Situation regional sehr unterschiedlich. Ich denke, dass es keine Reisewarnung für die USA geben wird; es gibt aber Regionen mit einer erheblichen Häufung von Infektionen. In New York hätte ich heute wesentlich weniger Bedenken als Anfang April, in anderen Regionen der USA deutlich mehr. Eine pauschale Aussage zu treffen, wäre jedenfalls falsch.
Zur Situation in der Region: Im Neckar-Odenwald-Kreis wurde seit Mitte Juni keine Bewohner mehr positiv getestet, im Rhein-Neckar-Kreis und in Heidelberg sowie Mannheim ist das anders. Liegt das an der städtischeren Struktur?
Wir reden hier über kurze Zeiträume mit sehr geringen Zahlen. Werden in einem Landkreis vier Infektionen zusätzlich gemeldet, verändert dies das Bild sehr stark, obwohl die Gesamtsituation gleich bleibt. Prinzipiell ist natürlich die Wahrscheinlichkeit der Übertragung größer, wenn Menschen in größeren Gruppen zusammen kommen. Aber natürlich nur, wenn sich dort infizierte Personen aufhalten. Mein Dauerbeispiel ist die Heidelberger Neckarwiese: Wenn die Menschen dort auf sehr engem Raum zusammenkommen, ist die Wahrscheinlichkeit der Übertragung größer, als wenn Sie im Wald spazieren gehen.
Wobei ja auch die Zahlen in der Südpfalz, einem Ausflugshotspot in der Region, in der vergangenen Woche wieder hochgegangen sind.
Zum Glück sind aber alle diese Zahlen weiterhin gering. Wir müssen sie dennoch ernsthaft beobachten. Vor einigen Wochen waren auch die Zahlen in Texas noch sehr gering und dann sind sie sprunghaft gestiegen. Das müssen wir immer im Kopf behalten. Wenn die Zahlen an einigen Tagen etwas steigen und dann wieder fallen, hat das keine große Bedeutung. Aber wenn wir einen langsamen und kontinuierlichen Anstieg sehen, müssen wir das sehr ernstnehmen. Jedes exponentielle Wachstums beginnt mit einem langsamen stetigen Anstieg.
Jetzt testet Bayern anlasslos, also auch ohne Symptome. Ist das sinnvoll oder unnötig?
Wir glauben, dass in der momentanen epidemiologischen Situation die anlassbezogene Testung und die Kontakttestung die entscheidenden Maßnahmen sind. Anlassbezogen heißt, wenn Personen Symptome haben sowie Personen, die mit Infizierten in Kontakt gekommen sind. Dazu kann man so genannte Surveillance-Tests machen, also zum Beispiel alle Bewohner der Altenheime testen, wie kürzlich in Baden-Württemberg, um möglicherweise unentdeckte Infektionen zu erkennen. In Bayern soll sich jetzt jeder auch ohne Anlass und wiederholt testen lassen können, wenn die Person dies wünscht. In der momentanen epidemiologischen Lage gibt es dafür keinen überzeugenden medizinisch-epidemiologischen Grund. Insofern dient dies eher der psychologischen Beruhigung der Bevölkerung. Manche Menschen haben Angst und fühlen sich sicherer, wenn sie einen Test haben, auch wenn das nur eine Momentaufnahme ist. Die Politik muss sich aber fragen: Wie viel Geld ist uns dieser Beruhigungseffekt ohne deutlichen medizinischen Nutzen wert, wie teuer darf das sein?
Von welchen Kosten reden wir?
Wenn wir von 50 bis 100 Euro pro Person und Test ausgehen und 100.000 Menschen lassen sich testen, kostet es bereits fünf bis zehn Millionen. Mache ich das mehrmals, sind dies schnell hunderte von Millionen. Wenn man sich das leisten kann und will, ist nichts dagegen einzuwenden, aber man sollte es nicht mit medizinischer Notwendigkeit begründen. Wichtig ist mir aber, dass sich dies in einer epidemiologisch anderen Situation ganz anders darstellen kann. Wenn wir deutlich mehr Fälle hätten und asymptomatische Übertragung befürchtet wird, könnte genau diese Maßnahme richtig sein. Meine heutige Aussage bezieht sich auf die derzeitige pandemische Lage – und da sind anlasslose Tests eher nicht sinnvoll. Sollte sich das ändern, muss die Empfehlung anders lauten und man sollte uns dann nicht vorwerfen, dass der Virologe doch vor drei Monaten noch genau das Gegenteil gesagt habe.