Ex-Diplomat Rüdiger von Fritsch

"Die Russen leiden an einem ,Versailles-Syndrom’"

Der Ex-Diplomat sieht derzeit keine Lösung in der Ukraine.

24.06.2022 UPDATE: 25.06.2022 06:00 Uhr 1 Minute, 57 Sekunden
Nachdenklich: Ex-Diplomat Rüdiger von Fritsch und Moderator Christoph von Marschall. F.: bma

Von Benjamin Auber

Heidelberg. Im Grunde wollen wir doch nur wissen, warum das alles um uns herum passiert und wie man Wladimir Putin im Kreml endlich stoppen kann. Denn der Ukraine-Krieg hinterlässt nicht nur unerträgliches Grauen auf den Schlachtfeldern, sondern treibt die Inflation in die Höhe, stellt die Energiesicherheit in Frage oder treibt afrikanische Länder in eine Hungerkrise. Auf die Fragen suchten der Ex-Diplomat Rüdiger von Fritsch, der bis 2019 deutscher Botschafter in Moskau war, und Moderator Christoph von Marschall in der Aula der Neuen Universität auf Einladung des Deutsch-Amerikanischen Instituts Antworten. Eigentlich sollte auch Ex-Außenminister Sigmar Gabriel dabei sein. Doch der Zug aus Goslar fiel aus – was dem spannenden Abend im voll besetzten Saal aber keinen Abbruch tat.

Fritsch, der den Kreml-Chef mehrmals getroffen hat, versuchte die russische Sicht darzulegen: "Die Russen leiden an einem ,Versailles-Syndrom’ und hängen noch an der Größe und der Bedeutung des alten Reiches", sagte Fritsch. In diesem Verständnis sei der imperiale Reflex zu verstehen. Außerdem hätten die Russen einen völlig anderen Blick auf die Geopolitik, denn für sie ist die Ukraine das "Herz" und wenn sich das Land in Richtung EU und Nato aufmacht, ruft das eine Demütigung hervor, inklusive dem Gedanken einer amerikanischen Verschwörung. "Was fatal ist, dass man glaubt, aus der Schwäche heraus nur mit Stärke reagieren zu können", so Fritsch.

Immer wieder lehrreich, wie der Ex-Diplomat das Staatsverständnis erklärte. Beispiel gefällig? Wenn eine Chemiefabrik die Umwelt in einer Region verpestet, werden in einem ersten Reflex die "üblichen Verdächtigen" aus dem Weg geräumt, dann giftiges Material weggeschafft, und wenn das nicht reicht, den Betroffenen vor Ort viel Geld gegeben – Problem gelöst. "Das Regime ist gar nicht an einer nachhaltigen Lösung interessiert, sondern hat Angst vor der Bevölkerung", sagt Fritsch. Und mit Blick auf die Propaganda sei entscheidend, wer gewinnt: "der Fernseher oder der Kühlschrank".

In der Gemengelage, als Putin das "Schachbrett umgeworfen hat" und Verträge in der internationalen Politik nicht mehr gelten, ist nun die Frage, die auch von Marschall mehrfach aufgeworfen hat, was jetzt zu tun ist – bzw. inwiefern geht uns der Krieg überhaupt etwas an? Fritsch entgegnete, dass wir auf keinen Fall unsere Werte aufgeben dürfen und standhaft hinter der Ukraine stehen müssen, sonst würde ein Angriffskrieg erfolgreich sein. "Und das können wir nicht zulassen".

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Wer an diesem Abend gehofft hatte, eine Lösung präsentiert zu bekommen, wie der Krieg zu einem schnellen Ende finden würde, wurde enttäuscht. Denn auch der Ex-Diplomat glaubt nicht, dass Putin seine Ziele aufgeben wird. Dazu sei der Kreml-Chef zu sehr in seinem "Denkmuster gefangen", die derzeit nur eine weitere Eskalation vermuten lässt. Zumal Putin die ukrainische Widerstandskraft und die westliche Geschlossenheit massiv unterschätzt und die eigene militärische Stärke überschätzt habe.

Wie sehr der Ukraine-Krieg bewegt, zeigte sich in der anschließenden Fragerunde, die amerikakritisch ausfiel, Waffenlieferungen infrage stellte oder die Rolle Chinas beleuchtete. Auch bei der Buchsignierung seines Werkes "Zeitenwende" ging es kontrovers weiter. Wer am Ende noch an Gabriel dachte, der sollte sich den 30. September vormerken. Dann will er bis Heidelberg durchfahren.