Schnell gelangweilt

Musikalischer Doppelpack von Bilderbuch

Die Band um Sänger Maurice Ernst stellt alte Hörgewohnheiten auf den Kopf. Mit ihren aktuellen Alben "Mea Culpa" und "Vernissage My Heart" wagt einen musikalischen Parforceritt.

17.02.2019 UPDATE: 21.02.2019 06:00 Uhr 3 Minuten, 43 Sekunden
Maurice Ernst. Foto: Allgeier​

Mit ihren beiden Alben dekonstruiert Bilderbuch permanent Genres wie Trap, Jazz, Latin, Synthi-Pop, Soul, Rock und Easy Listening. Sänger Maurice Ernst versteht es dabei, aus losen Wortfetzen schillernde Songs zu machen. Mit ihm sprach RNZ-Mitarbeiter Olaf Neumann über Songstrukturen und Klosterschulen.

Bilderbuch veröffentlichen zwei Alben auf einen Schlag. Warum reizen Sie klassische Songstrukturen nicht mehr so stark?

Maurice Ernst: Ganz moderne Musik hat auch keine klassische Songstruktur. Sie hat sehr viele Features und die Strophen klingen immer anders, weil jede von einem anderen gesungen wird. Wenn man die moderne Musik konsumiert, die rund um einen ist, nimmt man deren Freiheit auch mit. So erkläre ich mir, weshalb sich bei uns die Strophen und Teile nicht oft wiederholen. Wir sind immer auf einer Reise. Aber es wird sicher auch Zeiten geben, in denen wir zurückflüchten in den Minimalismus der normalen Songstruktur. Das ist die DNA von Bilderbuch. Wir sind eine Band, die Hip-Hop umsetzt, ohne Hip-Hop zu machen.

Ein Künstler steht auch immer fest für einen Sound. Wollen Sie sich diesem ungeschrieben Gesetz partout nicht unterordnen?

Das stimmt. Manchmal frage ich mich, ob das eine Schwäche oder eine Stärke von uns ist. Oder ist es eine Notwendigkeit, weil wir einfach nicht gut sind im Wiederholen? Wir sind ungeduldige Jungs und tendenziell schnell gelangweilt. Wir wollen immer etwas Neues entdecken.

Wie suchen Sie nach dem originellsten Sound?

Wir suchen nach irgendetwas, das uns selbst überrascht. Es ist nicht so, dass wir unbedingt andere überzeugen wollen, dass es der originellste oder hipste Sound ist. Ein Track wie "Lounge 2.0" von Mea Culpa zum Beispiel hat House- und Two-Step-Elemente mit drin. Zwischen ihm und dem Opener von "Vernissage My Heart" - "Kids im Park" - liegen Welten. Bei uns zählt eher die Idee und das Gefühl, als ein Genre, dem man sich verschreibt. Mit "Vernissage My Heart" bewegen wir uns wieder mehr in Richtung echtes Drumset, Bass, zwei Gitarren und etwas Synthesizer.

Wie kam es zu dem epischen Stück "Europa 22" auf "Vernissage My Heart"?

Es war mir immer schon ein Anliegen, eine unprätentiöse Nummer zu machen, die nicht mit dem Zeigefinger daher kommt und irgendwie politisch sein will. Man kann auch politisch sein und einfach nur ein Gefühl beschwören, das unglaublich positiv und melancholisch ist. In Wahrheit geht es bei dem Stück um gefühlte Hoffnung anhand von Europa. Wir haben davon auch eine noch plakativere Live-Aid-Version gemacht mit dem Refrain "Living in Europa". (stimmt den Refrain an) Ich kann nicht verstehen, weshalb ich als Europäer keinen europäischen Pass habe. Das wäre einer der einfachsten Moves, um den kommenden jungen Leuten ein Gefühl von Identität zu geben.

Sie haben ein eigenes unabhängiges Label gegründet. Gehen Sie nicht zur Industrie, weil Sie fürchten, glatt gebügelt zu werden?

Vielleicht lassen wir das Glattbügeln ja dann zu, wenn wir das Gefühl haben, dass die Zeit reif ist, etwas zu machen, was mehr Leute anspricht. Auch darin liegt ein Reiz. 2019 spielen wir in Wien vor 30.000 Leuten, während wir in Berlin zweimal die Columbiahalle voll machen. Wir sind gewissermaßen die größte kleinste Band. Ich fände es spannend, im richtigen Moment aus dem eigenen Äther herauszutreten mit zwei, drei Songs, die noch größer sind als die Band selbst. Das gäbe dem, was wir machen, noch mehr Berechtigung. Aber vielleicht passiert ja auch das Gegenteil, und unsere Musik wird noch komplizierter.

Wie stadiontauglich sind die neuen Songs?

"Vernissage My Heart" ist ein super Album für Live-Auftritte. Wenn man den Refrain von "Ich hab Gefühle" mit Gospelsängerinnen aufbläst, werden die Leute ihre Hände zum Himmel reißen. Ich denke, dass ein Song wie "Europa" in den nächsten fünf Jahren nicht an Aktualität verlieren wird. Es ist zwar kein Partyhit, aber ein Song mit großem Gestus. Auch "Checkpoint" wird große Emotionen erzeugen, wenn die Leute ihn erst mal eingeatmet haben.

Ihre Eltern hatten ein Nachtlokal. Welche prägenden musikalischen Erfahrungen haben Sie dort gemacht?

Vorne war eine Bar und hinten eine kleine Diskothek, da habe ich mich an der Lichtampel und am DJ-Pult ausgetobt. Es war immer lustig, tagsüber, wenn alle draußen waren, die Türen zuzumachen und laut aufzudrehen.

Welche Musik hat Sie damals begeistert?

Soul im Stil von Otis Redding. Es gab da ein paar Sampler, die meine Mutter und ich rauf und runter hörten. Und immer wieder italienische Musik. Ich merke jetzt erst, wie sehr mich Lucio Battisti beeinflusst hat - von der Art, wie er Drama, Männlichkeit und Weiblichkeit vermischt. An Adriano Celentano mag ich, wie er unglaublich männlich auf der Bühne steht und gleichzeitig diese Männlichkeit persifliert.

Sie waren auf der Klosterschule Kremsmünster. Was haben Sie dort gelernt?

Dort habe ich die nötige Disziplin gelernt, die man braucht, um gewisse Dinge durchzuziehen. Ich hatte eine super Klasse mit tollen Freunden. Das kombiniert mit dem Gegner Schule, der einem die Stirn bieten will. Ich war kein guter Schüler und trotzdem hat meine Mutter mir vertraut.

Haben Sie auf der Klosterschule Gottesfurcht gelebt?

Nein, aber Religion war dort eines der interessantesten Fächer. Ab dem 15. Lebensjahr ging es im Unterricht darum, aufzustehen und zu hinterfragen. Das war fast noch krasser als der Philosophieunterricht, weil man permanent versucht hat, die Kirche auszuhebeln. Und der Pater hat das sogar zugelassen. In der 7. Klasse sagte ich zu ihm: "Seit ich Sie habe, habe ich aufgehört zu beten". Er hat mich daraufhin nicht rausgeschmissen, sondern es ist eine Spannung entstanden. Ich finde, man sollte keine Religion glorifizieren, aber Werte wie Nächstenliebe sind trotzdem sehr geil. Ich frage mich, ob diese Werte gerade so gut dastehen. "Vernissage My Heart" zum Beispiel ist vom Gestus her ein Nächstenliebe-Album. "Mea Culpa" dagegen ist eine sehr introvertierte Platte. Für mich gibt es zwei Energien: Die eine geht nach innen und die andere nach außen.

Info: "Mea Culpa" und "Vernissage My Heart" (Foto) gibt es ab 22. Februar. Bilderbuch live: 6. April Würzburg; 7. April Stuttgart;
 8. April Offenbach.