Walther von der Vogelweide

Was für eine Schandschnauze

Gedankenspiele über Walther von der Vogelweide

09.10.2017 UPDATE: 15.10.2017 06:00 Uhr 2 Minuten, 11 Sekunden

Das berühmteste Motiv aus der Manessischen Liederhandschrift: Walther von der Vogelweide. Die Codex ist der größte Schatz der Universitätsbibliothek Heidelberg. Foto: UB Heidelberg

Von Rüdiger Krohn

Eigentlich sollte es eine "Bettleroper" über den berühmten Mittelalter-Poeten Walther von der Vogelweide werden. Aber dieses ehrgeizige Projekt, das der Lyriker Peter Rühmkorf zur Behebung einer Schaffenskrise 1974 plante, zerschlug sich. Übrig blieb ein grandioser Essay über "des Reiches genialste Schandschnauze", in dem der solidarische "Lohnschreiber" Rühmkorf sich den altdeutschen "Kollegen" Walther über 800 Jahre hinweg mit einfühlender Geste an die Brust riss und ihm ein literarisches Denkmal von wegweisender Strahlkraft errichtete. Mit dem fulminanten, längst vergriffenen Rowohlt-Band "Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich" (1975) öffnete er nicht nur einen neuen Blick auf den innovativen Minnesänger und streitbaren Politdichter Walther, sondern er setzte auch wichtige Impulse für die eben einsetzende Welle der Mittelalter-Rezeption, die nicht nur die akademische Germanistik animierte, sondern auch dem einschlägigen Kulturbetrieb der Jahre zwischen "Name der Rose", aufblühenden Gauklermärkten und "Ougenweide"-Singsang prägende Akzente stiftete.

Peter Wapnewski. Foto: C. Esch-Kenkel

Rühmkorfs glänzend geschriebener, souverän neu sichtender Aufsatz über den "Reichssänger und Hausierer", der den oft verkannten "Bruder Walther" vom Muff jahrzehntelanger fachgermanistischer Deutungshuberei befreit und den alten Texten durch kessen Zugriff und sprachliche Brillanz eine bemerkenswert frische Heutigkeit beschert hat, findet sich nun erneut als umsichtig annotierter Nachdruck in einem Buch, das unter anderem auch Rühmkorfs geschliffene, wunderbar kongeniale Walther-Anverwandlungen wiedergibt, die Vorstufen und Entstehung seines Essays detailreich dokumentiert und vor allem den unbedingt lesenswerten Briefwechsel des 2008 verstorbenen Lyrikers mit dem renommierten Altgermanisten Peter Wapnewski abdruckt, der in den 60er Jahren auch in Heidelberg gelehrt hat.

Peter Rühmkorf. Foto: Langenstrassen

Wapnewski war über seine engere Fachkompetenz als Mediävist hinaus ein weltläufiger, versierter homme de lettres und als solcher auch der Gegenwartsliteratur intensiv zugewandt. Im Austausch der beiden Autoren, der beileibe nicht nur Fragen der zünftigen Philologie und des wissenschaftlichen Handwerks behandelt, sondern auch auf grundsätzliche Probleme des angemessenen Umgangs mit alten Zeugnissen, der Übersetzungskunst sowie der Lebens- und Arbeitsbedingungen moderner Autoren eingeht, entspinnt sich selbst noch im gelegentlichen Dissens ein Feuerwerk von gescheiten, originellen Ideen. Was da wie nebenbei an blitzenden Pointen zum Literaturmarkt, klugen Aperçus zum aktuellen Geisteswesen und tiefgründenden Einsichten über das Wesen von Dichtung damals und heute anklingt, geht über noch so fein gewirkte Finessen der gelehrten Textdeutung weit hinaus und lässt anschaulich erkennen, warum unser Wort "Witz" ursprünglich mit "Geist" zu tun hatte. Das Vergnügen an diesem so amüsanten wie lehrreichen Schriftwechsel wird durch einen vorzüglichen Kommentar zu Begriffen, Namen und Bezügen der Briefe ergänzt.

Wer sich auf diesen Funkenflug einer hellwachen Intelligenz und gegenseitigen Animation einlässt, der erfährt mehr als nur allerlei Wissenswertes über Walther von der Vogelweide und dessen Vereinnahmung durch verbiesterte "Germanosophen" (wie der studierte Germanist Rühmkorf sie bespöttelt). Er erlebt überdies die Abenteuer des Geistes, die sich hier an einem (allerdings durchaus lohnenden) Gegenstand entwickeln, und erhält zugleich spannenden Einblick in Rühmkorfs Dichterwerkstatt: Das ausführliche Nachwort des Herausgebers wertet den Nachlass des Lyrikers aus und erhellt mithilfe von Tagebucheinträgen, Briefen, Notaten und Zitaten seine bisweilen assoziative, oft aber auch skrupulöse und allemal von solider Kenntnis gespeiste Arbeitsweise.

So wie 1976 die Kritiker der SWF-Bestenliste Rühmkorfs Walther-Essay an die Spitze lobten, so verdient nun dieses neue, glänzend gemachte Buch mit seinen wertvollen Materialien einen ähnlich prominenten Platz - als würdiger Nachruf auf zwei herausragende Vertreter ihrer Zunft, aber auch als Musterbeispiel für ein geglücktes Zusammenwirken von Wissenschaft und Poesie.

Info: Peter Rühmkorf: "Des Reiches genialste Schandschnauze. Texte und Briefe zu Walther von der Vogelweide". Hrsg. von Stephan Opitz. Wallstein Verlag, Göttingen 2017. 280 S., geb. 19,90 Euro.