Mütter und Töchter

Nicht ohne meine Mutter

Hanna – oder die große Angst vor dem Verlust

12.05.2017 UPDATE: 14.05.2017 06:00 Uhr 5 Minuten, 20 Sekunden

Von Ingrid Thoms-Hoffmann

Es ist spät geworden an diesem Abend. Hannelore, die sich schon vor langer Zeit die moderner klingende Hanna zugelegt hat, sitzt am Tisch und weint. Lautlos. Nur ab und zu schluchzt sie laut auf. Gerade haben wir ihre Mutter zurückgebracht. Zurück in die geschlossene Abteilung des Krankenhauses. Freudig wurde sie dort von drei Männern begrüßt. Einer sagt, schön, dass Sie mir meine Frau wieder zurückbringen. Hannas Mutter ist aber gar nicht seine Frau. Der alte Herr ist dement, so wie Hannas Mutter auch. Sie ist jetzt 89 Jahre alt und hat durchaus lichte Momente. Hanna hat versucht, sich um die alte Dame zu kümmern, wollte, dass die Mutter bei ihr wohnt. Nach ein paar Wochen war sie total erschöpft. Es ging nicht. Keine Sekunde konnte sie ihre Mutter alleine lassen. Jede Nacht weckte sie drei bis vier Mal das fröhliche "Hallo" aus dem Stockwerk über ihr. Möglichst geräuschlos stand sie auf, wollte ihren Mann nicht stören, der morgens früh rausmusste. Ihr tägliches Highlight war der Einkauf im Supermarkt, wenn die Nachbarin kurz vorbeischaute. Jetzt sagt sie: "Nein, wenn ich mich um meine Mutter kümmere, dann ist das keine Last für mich. Es ist ein Geschenk, sie noch bei mir zu haben." Hanna und ihre Mutter. Das ist ein langes schönes, schmerzliches Kapitel. Vieles haben Hanna und ich zusammen erlebt. Jetzt gelingt es mir kaum, meine Freundin aus Schulzeiten zu trösten. Der Schmerz vor dem drohenden Verlust, diesem Weggehen auf Raten, kann sie kaum verkraften. Und das überrascht sie selbst am meisten.

Hanna war nie das "Mama-Kind". Ihre Bewunderung galt dem Vater. Zumindest bis sie in die Pubertät kam. Die Mutter, das war halt jemand, die immer zu Hause wartete. Die aber auch streng sein konnte, die mit dem Vater drohte, die Verbote aussprach und die Hanne nie das Gefühl vermittelte, dass sie hinter ihr stand. In der Schule waren es die Lehrer, die immer Recht hatten und später dann hagelte es Kritik an den auffälligen Klamotten. Wie oft machten wir uns über den Standardsatz unserer Eltern lustig: "Was wohl die Nachbarn sagen?" Uns war es vollkommen schnuppe, was die Nachbarn sagten oder dachten. Und Hanna trieb es noch ein bisschen bunter als wir anderen. Als ich noch mit Karl May unter der Bettdecke lag, da waren wir dreizehn, hatte sie schon ihren ersten Freund. Als ich noch meine Eltern anflehte, doch wenigstens an Sylvester erst nach Mitternacht nach Haus kommen zu dürfen, blieb Hanna einfach fort, nahm den Riesenkrach in Kauf. Und als ihr Vater ihr eine Ohrfeige gab, blaffte sie zurück, dass dies der letzte Schlag sei, den sie kassiert hätte. Noch einmal und sie würde durchbrennen. Da waren wir 16. Mit 17 zog sie aus. Ihre Begründung: Sie müsse näher an der Schule sein, die Bahnfahrten wären zu lang. Die Eltern waren nicht begeistert. Schließlich stimmten sie doch zu. Hanna war so glücklich. "Meine Mutter sieht mich eh als Konkurrenz", sagte sie in dieser Zeit der langen nächtlichen Gespräche am Telefon.

Sie fühlte sich so unglaublich überlegen. Schließlich werde sie, anders als ihre Mutter, das Abitur machen, werde einen tollen Beruf haben, damals schwebte ihr Architektin vor, werde nie, nie, nie, früh heiraten und selbstverständlich nie früh Kinder haben, falls überhaupt. Der Pille sei Dank. Sie baute sich ihr wunderbares Zukunftshaus. Dafür saß sie vormittags auf der Schulbank, dafür arbeitete sie mittags im Café. Unterstützung von zu Hause gab es kaum. Hanna schaffte tatsächlich das Abitur und fing an zu studieren. Kritisch beäugt von der Mutter. Der passte das alles nicht. Was sie denn in diesem Männerberuf wolle. Sie sollte doch lieber zur Sparkasse gehen, "auf der Bank" arbeiten, vor allem im Hinblick auf später, auf Ehemann und Kinder und einen Halbtagsjob. Hanna ließ sich nicht irritieren. Sie wollte genau aus diesem Kreislauf des Lebens, der ihre Mutter so geprägt hatte, ausbrechen.

Sie ging an die Technische Hochschule. Klug, selbstbewusst und hübsch. Als ich sie besuchte, war sie die Wortführerin in einem Kreis linker Studenten. Es ging um die Ideologie des Bauens, um die Städte der Zukunft, um die Zerstörung der Innenstädte durch Großinvestoren. So hatte ich Hanna noch nie erlebt. Woher nahm sie nur diese Selbstsicherheit? Ihre Antwort verstörte mich. "Ach weißt du", sagte sie damals, "ich bin zwar meinen Eltern intellektuell haushoch überlegen, aber irgendwie sind sie doch mein Fundament, auf dem ich aufbauen kann." Aus ihr sprach die Hybris der Jugend, der Unsterblichkeit. Alles war möglich. An Männern mangelte es Hanna in dieser Zeit nicht, aber allein die Vorstellung zu heiraten und selbst Mutter zu werden - undenkbar.

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Und dann passierte es doch. Heulend rief sie mich an einem Sonntag im März an. Wir hatten gerade unseren 21. Geburtstag gefeiert. Sie war zurück von einem Studienaufenthalt in Südfrankreich und schwanger. Sie murmelte irgendetwas von einem Landarbeiter, mit dem sie eine Nacht verbracht hatte. Nein, weder liebe sie ihn, noch wolle sie heiraten, außerdem wisse sie ja auch gar nicht so genau, wo sich der Typ aufhalte. Natürlich war sie schon bei ihren Eltern. Entsetzen pur. Als die Mutter ihr Geld für eine Abtreibung anbot, packte sie ihre Sachen und verließ das Haus. Hanna war entschlossen, das Kind, ihr Kind, zu bekommen. Irgendwie werde sie es schon packen. Hanna studierte weiter, jobbte. Die Mutter meldete sich, will das Baby, sobald es auf der Welt ist, zu sich nehmen. Hanna lehnte ab. Als die Kleine dann da ist, weiß die junge Mutter nicht so recht, was sie mit dem Neugeborenen anfangen soll. Sie bittet ihre Mutter um Hilfe. Und da passierte etwas, was sie lange Jahre nicht verzeihen kann: Die Mutter lehnt ab mit dem Hinweis, dass sie es ja so wollte. Hanna ist am Boden: alleinerziehend, ohne abgeschlossenes Studium, ohne Job. Großartige Hilfe von den Freundinnen kann sich auch nicht erwarten.

Im Quatschen waren wir groß, hatten unsere Vorstellungen aber noch nie mit dem Alltag messen müssen. Es war die Zeit, wo ich Hanna für einige Jahre aus den Augen verlor. Als ich sie dann wieder traf, ging es ihr glänzend. Das Studium hatte sie an den Nagel gehängt, sie arbeitete halbtags in einer Marketing-Abteilung einer großen Firma. Ihre Tochter Elsa war gerade eingeschult worden, sie hatte einen erfolgreichen Unternehmer geheiratet. Ihre Mutter war eine begeisterte Großmutter, die sie oft besuchen kam - bis der nächste Zusammenprall kam.

Als Hanna verkündete, dass sie sich scheiden lassen wird, brach für die Eltern eine Welt zusammen. Darunter begraben die Liebe, die Zuneigung, das miteinander sprechen. Zwei Jahre dauerte der Zustand der Sprachlosigkeit. Hanna litt ganz fürchterlich darunter. Briefe an Vater und Mutter blieben unbeantwortet. Sie konnte ihrer Mutter nicht erklären, dass ein gesichertes Auskommen, gesellschaftliche Anerkennung und ein gewisser Wohlstand mit Einfamilienhäuschen im Grünen nicht alles war, was sie sich vom Leben erhofft hatte. Eines Tages lag die Familie sich dann doch wieder in den Armen. Und es war nicht die Mutter, es war der Vater, der das Schweigen nicht mehr aushielt.

Von da an wusste Hanna, dass sie nie so werden wollte wie ihre Mutter, dass sie alles anders, besser machen wollte. Aber seit diesem Zeitpunkt wusste sie auch, dass sie die Mutter nicht wird ändern können. Als sie das verstanden hatte, fiel es ihr leichter, die Mutter zu akzeptieren. Und ihr Verhältnis änderte sich noch einmal, als der Vater starb, von der Mutter bis zum letzten Tag zu Hause gepflegt. Da begriff sie, welch ein starke Frau ihre Mutter ist. Da war es auch nicht mehr wichtig, dass sich meine Freundin mit ihrer Mutter nie über die Nazizeit hatte austauschen können, dass sie nie über das Verhältnis der Eltern zueinander hatte reden können, nie über die Bedürfnisse einer alternden Frau. Irgendwann konnte sie sogar einsehen, dass sie den Ansprüchen ihrer Mutter nie würde gerecht werden können. Ihre Lebensentwürfe sind zu unterschiedlich.

Und spät begriff sie, dass es neben allen intellektuellen Gaben ganz andere Werte gibt, die ihre Mutter ihr Leben lang so großzügig verteilt: Mitmenschlichkeit und Herzenswärme und eine ganz eigene Form der Toleranz, allen Menschen gegenüber. Und dann hofft Hanna, dass sie all dies ihrer Tochter wird weitergeben können. Darüber reden wir dann noch lange Zeit am Küchentisch und wie berührend es war, als sich Hannas Mutter ganz selbstverständlich neben den großen, weißhaarigen Mann setzte, der gar nicht ihr Mann war und dessen Hand sie liebevoll nahm.