Sie machten es sich beim 'Literarischen Salon' auf der Couch gemütlich: Büchereileiterin Renate Büchner und die beiden Experten Wilhelm Reichart (re.) und Frank Barsch. Foto: Pfeifer
Walldorf. (kvs) Eine ganz neue Veranstaltungsreihe auf dem Gebiet der Buchpräsentation feierte dieser Tage Premiere. Der erste "Literarische Salon" zog trotz der fast schon sommerlichen Wetterverhältnisse erstaunlich viele Leseinteressierte in die Stadtbücherei Walldorf. Die beiden Ideengeberinnen, Renate Büchner und Helga Föll, zollen damit der Veränderung auf dem Bücher- und Medienmarkt Rechnung. "Immer mehr wichtige Buchtitel erscheinen im Frühjahr, die Ausstrahlung der Leipziger Buchmesse erreicht so langsam die der Frankfurter Buchmesse", sagte Renate Büchner. Der "Literarische Salon" ist als Ergänzung zu dem seit mehr als 20 Jahren erfolgreich ausgerichteten und auch weiterhin stattfindenden "Bücherherbst" zu verstehen.
Für die Orientierung im Labyrinth der Neuerscheinungen sorgten der Buchhändler und Philosoph Wilhelm Reichart sowie der Literaturkritiker und Autor Frank Barsch. Beide empfanden es als vergnügliche Herausforderung, aus der Unübersichtlichkeit der Neuheiten Lesenswertes auszuwählen. Da ein literarischer Salon vom 18. bis zum 20. Jahrhundert zumeist ein privater gesellschaftlicher Treffpunkt für Diskussionen, Lesungen oder musikalische Veranstaltungen war, entspann sich das literarische Streitgespräch auf einem gemütlichen Sofa.
Unter dem weitläufigen Motto "Lebensentwürfe" stellten die beiden Experten elf Bücher vor, von denen fünf auf unterhaltsame Weise im Zwiegespräch erarbeitet und je drei als Leseempfehlung kurz vorgestellt wurden. Dabei spannte sich der zeitliche Bogen vom Anfang des 20. Jahrhunderts über Ereignisse der neueren Geschichte bis hin zur Gegenwart und die Genres reichten von der Parodie eines Abenteurerromans über den Künstler- und Gesellschaftsroman bis hin zur Lyrik.
Bei der Auswahl richteten sich Reichart und Barsch nicht nur am eigenen Geschmack aus, sondern auch an Literaturpreisen sowie an Skandalen und Skandälchen. Anders als in den Medien betrachten sie den Autor Christian Kracht, der sich selbst gern als Dandy inszeniert, nicht als rechtslastig im politischen Sinn. Sein "Imperium" definieren die beiden als einen standpunktlosen, spannungsfreien Roman, der sich nicht entscheiden kann, ob er Abenteurerroman oder eine Karikatur davon sein will.
In trauter Einigkeit wurde der Roman "Karte und Gebiet" von Michel Houellebecq als bestes Buch des Jahres 2011 vorgestellt. "Dieser Schriftsteller ist in der Klarheit seiner Sprache genauso berauschend wie in der Geradlinigkeit seiner Gedankenführung", fasste Frank Barsch seine Begeisterung in Worte. Auch Milena Michiko Flasar, Tochter einer japanischen Mutter und eines österreichischen Vaters, fand Aufnahme in den Reigen der vorgeschlagenen Werke. Die noch sehr junge österreichische Autorin habe mit "Ich nannte ihn Krawatte" eine sehr gelungene Innenansicht eines für Mitteleuropa eher unzugänglichen Kulturkreises abgeliefert, konstatierten Reichart und Barsch. Sie lenke den Blick mit einer ganz eigenen Perspektive auf den modernen Konkurrenzterror und zeige, dass auch die so hoch entwickelte und perfekt organisierte japanische Arbeitswelt Risse bekommt.
Eine der wichtigsten Stimmen der modernen deutschen Literatur hatten sich die beiden streitbaren Leser bis zum Schluss aufgehoben. Die Baden-Württembergerin Anna-Katharina Hahn beschreibt in ihrem Stuttgartroman "Am schwarzen Berg" eine provinzielle Enge, die der Leser fast körperlich spüren kann. Dabei findet sich in ihrer realistischen detaillierten Gesellschaftsanalyse auch der jüngste Konflikt um "Stuttgart 21" wieder. Bei der Präsentation dieses Buches entwickelten denn auch die beiden Literaturkenner eine wahre Streit- und Gesprächskultur, die das Publikum nicht nur begeisterte, sondern auch mit einbezog.
Das Experiment, Literatur in einer ganz anderen Form zu präsentieren, ist in der Gemeinschaftsveranstaltung von Stadtbücherei und Buchhandlung Föll gelungen und hat das Potenzial, sich zu einer "In-Veranstaltung" zu entwickeln. Wenn hier auch nicht der Boden für Revolutionen bereitet wird, wie es die Pariser Salons zu Zeiten von Voltaire und Diderot taten, so kann der Walldorfer Literatursalon einen Lesefunken zünden und dem freien Ideenaustausch dienen.