Der Caritasverband will Menschen für die Themen Obdachlosigkeit und "Bezahlbarer Wohnraum" sensibilisieren. Foto: Lenhardt
Von Sebastian Blum
Schwetzingen. Ein skurriler Anblick offenbart sich in der Fußgängerzone. Antike Möbel sind hübsch angeordnet, ein roséfarbener Teppich liegt auf dem Pflaster, auf einer Kommode stehen Bücher. Mitten im Freilicht-Wohnzimmer sitzt Kerstin Schmid, Fachberaterin für Wohnungslosenhilfe bei der Caritas in Schwetzingen, auf der Couch.
Plötzlich taucht Clara (Name geändert) auf, eine von Schmids vielen Klienten, stellt das Fahrrad ab, raucht die Zigarette fertig. Sie hat heute einen freien Tag und ist gekommen, um die Caritas bei der Aktion "Bezahlbarer Wohnraum" zu unterstützen. "Eine Hand wäscht die andere", sagt Clara. Ohne die Hilfe der Caritas hätte sie gar keinen Wohnraum.
"Eines Tages standen meine Koffer gepackt vor der Haustür. Dann war der Wald mein Zuhause." Sie war damals 16. In der achten Klasse flog sie von der Hauptschule in Ketsch, als Teenager Zuhause raus, mit 20 war sie nach vier Jahren im Wald und auf der Straße schwer alkoholsüchtig. Ein Kumpel, zu dieser Zeit ebenfalls obdachlos, habe sie zur Caritas schleifen müssen. "Ich habe mir immer eingeredet, dass ich das alleine schaffe." 2013 lebte sie für ein Jahr in Containern, die später als vorläufige Unterkunft für Geflüchtete dienen sollten.
Clara ist heute 29 Jahre alt und eine von 242 Obdach- beziehungsweise Wohnungslosen, die von der Fachberatung der Caritas in Schwetzingen betreut werden. "Wohnungslosigkeit ist erst die Spitze des Eisbergs." Beraterin Kerstin Schmid versucht, das Ausmaß des Problems auf den Punkt zu bringen. Ohne Meldeadresse würden Sozialleistungen wegfallen, es gebe keine Altersvorsorge, kein Krankenkassenkärtchen. Nichts, was den Sozialstaat ausmache, bleibt übrig.
Clara wohnt in einer Betreuten-WG der Caritas, die eigentlich nur für 18- bis 25-Jährige zur Verfügung steht. Aber seit sechs Jahren sucht sie erfolglos eine eigene Bleibe. Sie hatte noch nicht mal eine Besichtigung, sagt sie. "Das Jobcenter würde ihr eine Wohnung bezahlen, wenn die Miete 320 Euro nicht übersteigt", erzählt Schmid. Was drüber gehe, werde vom Arbeitslosengeld abgezogen.
Laut dem Portal Wohnungsbörse hat sich die Miete für eine 30-Quadratmeter-Wohnung in Schwetzingen von durchschnittlich 7,51 Euro pro Quadratmeter im Jahr 2011 auf 12,12 Euro im Jahr 2018 erhöht. "Egal, wo wir suchen - sogar in Altlußheim ist es schwierig", sagt Schmid. Und wenn Clara dann doch eine bezahlbare Wohnung findet, stellen sich die Vermieter quer. "Sobald sie sehen, da ist eine 29-Jährige, und die Miete wird vom Amt übernommen, blocken die Vermieter", kritisiert die Fachberaterin.
Sie hofft, dass sie im Freilicht-Wohnzimmer auch mit jenen ins Gespräch kommt, die bei Obdachlosen sofort Vorurteile schüren. Die meisten Wohnungsbesitzer hätten Angst, sich Mietnomaden ins Haus zu holen: "Diese Fälle gibt es auch", gibt Schmid zu, "aber das sind eben nicht alle."
Einen Job hat Clara mittlerweile, wenn auch nur als Aushilfskraft, bei einem Elektronik- und IT-Unternehmen in Mannheim. "Ich mache alles - Fliesenlegen, Elektriker - Hauptsache, ich muss nicht Putzen", sagt sie. Sie würde auch in Vollzeit arbeiten, aber Schmid tritt auf die Bremse. "Da würden wir binnen zwei Monaten alles kaputtmachen, was wir in den vergangenen Jahren an psychischer und physischer Stabilität erarbeitet haben", sagt Schmid. Vom Alkohol ist Clara mittlerweile weg. "Eiskalter Entzug zuhause", sagt sie knapp. Zuhause, das heißt zwischen Containern und betreuten WGs.
Von den 242 Betreuungsfällen im vergangenen Jahr - die Schwetzinger Umlandgemeinden sind miteingerechnet - sind über die Hälfte zwischen 26 und 49 Jahren alt. Mehr als ein Viertel aller Betroffenen kommt aus Schwetzingen. Zum Vergleich: Aus Weinheim, einer 40.000- Einwohnerstadt, meldet die Caritas lediglich einen Fall. Einige von ihnen leben in den beiden Wohnungen der Organisation, andere bezeichnet Schmid einfach als "Couch-Hopper". Sie nächtigen mal hier bei einem Freund, mal dort bei Bekannten.
Clara hat nun ihre Probezeit bestanden, ab dem 1. Oktober verdient sie ihr eigenes Geld. "Ich will mir auch was gönnen können", sagt sie.