Sie verlässt sich auf ihren Kopf: Jennifer Ottmar. Die 19-Jährige wurde mit dem Grauen Star – einer Linsentrübung – geboren. Nun erhärtet sich auch noch der Verdacht, dass sie, wie ihre Mutter, an Multipler Sklerose erkrankt ist. Foto: Friederike Hentschel
Von Birgit Sommer
Heidelberg. Sie ist gerade 19 Jahre alt, doch mit einem Teenager hat Jennifer Ottmar nicht viel gemein. Kaum jemand in ihrem Alter dürfte so reflektiert auf sein Leben schauen, so druckreif formulieren, was ihm wichtig ist. Aber auch: Kaum jemand ihrer Altersgenossen lebt mit ähnlichen Belastungen. Sie wurde mit dem Grauen Star geboren, was ihr – nach Linsenentfernung und mit Brille – eine Sehfähigkeit von nur 30 Prozent bescherte. Und sie, die sich um ihre an Multipler Sklerose (MS) erkrankte Mutter kümmert, hat möglicherweise die gleiche neurologische Autoimmunerkrankung. Die Symptome waren da im Frühjahr, jetzt wartet man auf einen neuen Schub. Wenn Jennifer Ottmar das so erzählt, zeigt sie natürlich kein strahlendes Lächeln.
Die junge Frau aus Bad Rappenau ist eine von zwei Studienanfängern an der SRH-Hochschule in Heidelberg, die im Oktober das "Starthilfe"-Stipendium ergattert haben. Die 5000 Euro mindern jetzt ihre Studiengebühren. Denn die summieren sich, bis sie fertig ist. "Dann habe ich rund 30.000 Euro Schulden", rechnet sie aus. Doch das stört die Psychologie-Studentin nicht, sie hat sich bewusst für die private Hochschule entschieden: "Die SRH hat einen besonderen Bezug zu Menschen mit Behinderungen." Sie lobt das kompetenzorientierte Studium in kleinen Gruppen und weiß: "Wenn ich Probleme habe, kann ich mich an die Hochschule wenden. Ich kann nicht untergehen mit meinen Erkrankungen."
Ein richtiges Studium vor Ort war es, bedingt durch die Corona-Pandemie, noch nicht. Es lief nur digital. Keine Rede auch von Psychologie, dafür Statistik, Forschungsmethoden und Neurowissenschaften. Letzteres hat sie mit ihrer Vorgeschichte natürlich besonders fasziniert. Neuropsychologie, sagt Jennifer Ottmar, das könne sie sich als Beruf vorstellen. Oder Psychologin auf einer Palliativ-Station. "Am Ende des Lebens sind viele allein, haben Schmerzen. Ich glaube, da kann ich das, was ich erlebt habe, in etwas Gutes umsetzen."
Keine Angst vor dem Umgang mit dem Tod? "Mittlerweile nicht mehr", sagt die junge Frau, die ihren Opa im Krankenhaus in Mosbach sterben sah. Damals beschloss sie eigentlich, Medizin zu studieren, denn der Arzt in der Klinik habe ihren Großvater auf besondere Art und Weise – sehr empathisch – behandelt. "Ich wusste nicht, dass es solche Ärzte gibt. Ich hatte immer den Eindruck, dass Patienten für Ärzte nur eine wirtschaftliche Quelle sind."
Das Ereignis prägte die Schülerin so, dass sie neben der Erlangung der Fachhochschulreife noch das Berufskolleg für Gesundheit und Pflege absolvieren wollte und jetzt ausgebildete Sozialassistentin ist. Doch das genügte ihr nicht. Ein Studium sei schon immer ihr persönlicher Anspruch gewesen, sagt sie: "Ich konnte mich immer auf meinen Kopf verlassen."
Ein gutes Abitur ablegen, eine gute Ärztin werden – Jennifer Ottmar war darauf so fokussiert und arbeitete so intensiv daran, "dass ich vergessen habe, dass ich ein Mensch mit Bedürfnissen bin", wie sie heute weiß. Der seelischen Erschöpfung folgten plötzlich Schwindelanfälle. Und keine 24 Stunden nach dem allgemeinen Lockdown wegen der Corona-Pandemie im März zerbrach ihr Leben in tausend Stücke. Nach den ganzen Untersuchungen und der Familiengeschichte, der zufolge Mutter und Großmutter unter MS litten, vermuteten die Ärzte das auch bei ihr. Obwohl die Krankheit nicht erblich ist. Die Alternative bei den erlebten Gleichgewichtsstörungen wäre ein inaktiver Hirntumor. "Das habe ich sogar gehofft. Dann hätte ich die Chance, zu überleben", sagt Jennifer Ottmar ganz ernst, "aber eine chronische Krankheit ist ein endloser Kampf."
Dass sie von vornherein mit einer Behinderung groß wurde, hat die Studentin geprägt. "Ich musste das Leben anders betrachten als die anderen", antwortet sie, wenn man ihre Sätze abgeklärt findet, und: "Ich war immer ein sehr reflektierter Mensch." Als Jennifer drei Monate alt war, stellte der Kinderarzt die Linsentrübung in den Augen fest. Die Eltern hatten schon nach der Geburt gefunden, dass ihr Baby nicht richtig guckt. Damals hieß es, dass die Linsen entfernt werden müssten. Schon als Baby hat ihr Gehirn also nicht richtig sehen gelernt. Für neue Linsen muss das Auge erst mal ausgewachsen sein. Als Hindernis will sie ihre Sehschwäche aber nicht mehr sehen: "Das Einzige, was mich stört, ist, dass ich nicht Auto fahren darf."
Sie hat sich in ihren 19 Jahren intensiv mit ihrem Schicksal auseinandergesetzt, auch mithilfe einer Psychotherapie, und will nun allen zeigen: "Egal, welcher Schicksalsschlag, es geht zwar anders weiter, aber trotzdem ist das Leben nicht vorbei." Die junge Frau selbst beginnt ab Februar einen studentischen Hilfsjob im Krankenhaus in Sinsheim, wo sie Sitzwache bei Patienten halten wird. Sie joggt gerne und spielt Fußball und hat viel Spaß mit ihrem vier Jahre alten Neffen. Und dann sagt sie noch energisch: "Sobald sich Corona beruhigt, fange ich an zu leben und mache mir keine Gedanken mehr, was in zehn Jahren ist."