Bei seiner Arbeit zwischen Leben und Tod hat er alles erlebt
Harald Neuer geht nach 40 Jahren in Rente - Vieles hat sich verändert
Von Martina Birkelbach
Eberbach. Nasenbluten, Knochenbrüche, Herz-Kreislauf-Probleme, Verbrennungen, Erfrierungen, Kindern otfälle bis hin zu Schlaganfällen, Geburten und Todesfälle: Harald Neuer hat alles erlebt. 40 Jahre hat er hauptamtlich im Rettungsdienst gearbeitet und dabei immer wieder die Herausforderungen neuer Situationen angenommen.
"Kein Mensch, kein Notfall ist gleich", sagt der 63-Jährige. In den 40 Jahren hat es auch viele Veränderungen im Rettungswesen gegeben. Die größte Veränderung steht Neuer allerdings Ende Juli bevor: Da geht er in Rente. Sein letzter Arbeitstag ist bereits am 26. Juni; er zählt die Tage, und er zählt sie nicht.
"Es wird schwer so plötzlich loszulassen", gibt er seine gemischten Gefühle zu. Denn Neuer liebt seinen Job, auch heute noch. "Es ist schön, Menschen zu helfen", sagt er.
Neuer ist Rettungsassistent bei der Rettungswache (RW) des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) Eberbach in der Güterbahnhofstraße. "Rettungsassistenten sind eine aussterbende Zunft", sagt er lachend, denn heute führt die dreijährige Ausbildung zum "Notfallsanitäter".
Auch interessant
Neuer hatte bereits einen Abschluss als Maschinenschlosser in der Tasche und arbeitete unter anderem bei "Scherer Hartkapsel" in Eberbach. Da er aber gegenüber der damaligen Rettungswache (bis 1976) in der Friedrich-Ebert-Straße/Ecke Hafenstraße wohnte, hatte er immer den Blick auf das DRK.
Nach ehrenamtlichem Engagement ist er 1978 hauptamtlich beim DRK eingestiegen; absolvierte Ausbildungen vom Rettungssanitäter bis zum Rettungs- und Lehrrettungsassistent. Seit 2005 ist er noch verantwortlicher Desinfektor (verantwortlich für den Hygienebereich) auf der Rettungswache Eberbach, und von 2010 bis 2016 war er stellvertretender Leiter (Standortleiter ist Timo Lind).
"Ist kein Arzt in ausreichender Zeit da, ist ein Rettungsassistent verantwortlich für den Patienten", erklärt Neuer. Der Rettungsassistent tritt dann unter Umständen in die sogenannte Notkompetenz ein und darf gewisse ärztliche Maßnahmen übernehmen. Etwa den Defibrillator einsetzen oder Adrenalin geben. Alarmiert wird die RW Eberbach über die Leitstelle in Ladenburg. Je nach dort eingehender Meldung wird anhand eines Einsatzkatalogs nur der Rettungswagen oder dazu noch der Notarzt alarmiert.
"Anfang der 1980er Jahre hat sich der Rettungsdienst stark entwickelt" sagt Neuer. Beispielsweise ist vorher immer nur ein Mann alleine gefahren, "Rückspiegelsanitäter" hat man uns genannt, weil der Patient im Hinteren des Wagens "die Hand heben musste, wenn er etwas wollte." 1991 ist der erste Notarzt in das System "installiert" worden.
"Ich bin 13 Jahre ohne Notarzt gefahren. Da gab es auch kein EKG und keinen Defi", sagt Neuer. Heute sind rund um die Uhr immer zwei Mann (oder Frauen) auf der Wache, die über einem Rettungswagen verfügen. Neuer erinnert sich auch noch an die alte Dienstkleidung: "Eine graue Stoffuniform". Heute gibt’s bequeme funktionelle Poloshirts, signalrote Hosen und Sicherheitsstiefel.
Gearbeitet wird im Drei-Schicht-Betrieb. Neuer erzählt, dass es manchmal Zeiten gibt, zu denen "stundenlang nichts los ist - und dann kommt plötzlich alles auf einmal". Dabei ist es für ihn vor allem nachts schlimmer, wenn nichts los ist, als wenn es Arbeit gibt. Wobei es natürlich auch in der Leitstelle immer allerhand zu tun gibt.
Die Eintreffzeit von zehn Minuten nach Alarmierung muss eingehalten werden, "binnen einer Minute müssen wir am Fahrzeug sein - Kaltstart heißt das bei uns". Messungen haben ergeben, dass "bei Rettungssanitätern während der Arbeit der Blutdruck nie unter 140 geht".
Neben dem eigentlichen Zuständigkeitsgebiet in Eberbach und rundherum werden die Eberbacher DRK’ler auch mal von der Leitstelle Mosbach zur "Nachbarschaftshilfe" eingesetzt, in Oberdielbach, Zwingenberg oder "streckenweise auch in Neckargerach". Auch für das DRK Bergstraße (aus Hirschhorn) werden Einsätze übernommen.
Vier Geburten hat Neuer in seiner Dienstzeit miterlebt. "Einmal war ich alleine bei einer Hausgeburt. Ein Kind hat es von Friedrichsdorf nicht mehr in die damalige Entbindungsstation in der Eberbacher GRN-Klinik geschafft. Es kam dann im RTW auf die Welt.
"Das ist natürlich immer schön, wenn ein neuer Erdenbürger das Licht der Welt erblickt", so Neuer. Auf der anderen Seite hat er aber schon um Kinder gekämpft. "Wenn man zwei Stunden reanimiert, und das Kind es nicht schafft, da weint man später auch - später, wenn die Anspannung der Arbeit vorbei ist."
Für Neuer sind es meist die "Gedanken", die ihn anschließend beschäftigen und immer wieder die Fragen an sich selbst, ob man alles richtig gemacht hat.
Kindernotfälle sind für Neuer bis heute das Schlimmste. "Wir sprechen zum Aufarbeiten im Team darüber. Reaktionen auf solche unnormalen Ereignisse sind normal, sollten aber binnen vier bis sechs Wochen aufgearbeitet sein. Ist das nicht der Fall, sollte man sich professionelle Hilfe suchen."
Insgesamt haben laut Neuer die Leute früher nicht so schnell die Leitstellen alarmiert. "Heute wird manchmal auch angerufen, obwohl nichts groß ist; die Leute sind heute oft nicht mehr fähig, selbst mit einfachen Situationen umzugehen. Vieles kommt auch aus dem Fernsehen falsch rüber, Privatsender stellen Rettungssituationen meist völlig verkehrt dar."
Neuer geht in seinem Beruf auf; er geht mit gemischten Gefühlen in Rente. "Aber ich werde künftig aushilfsweise das Notarzteinsatzfahrzeug (NEF) fahren", sagt er - und lacht schon wieder.
Ansonsten stehen Radtouren und spontane Reisen auf dem Plan. Und, was er schon immer machen wollte: "Das Naturschutzgebiet Lüneburger Heide von Hamburg nach Celle durchwandern. 240 Kilometer - Meine Ehefrau ist dabei."
Außerdem will er sich für eine Nordic-Walking-Lehrerausbildung anmelden. Und er freut sich, dass der Schichtbetrieb bald ein Ende hat. "Mit zunehmendem Alter wird das immer schwieriger. Ab dem dritten Tag Nachtdienst ist alles verdreht, die Tage und die Nächte."
Eine kleine Verabschiedung ist geplant, und Neuer will die Kollegen in der Rettungswache natürlich später mal besuchen. Aber er weiß schon heute, bis er "losgelassen" hat, wird es dauern.