Ludwigshafen

Der Soundtrack einer diversen Stadt

Mit dem ersten transkulturellen Festival "So klingt LU" sucht die Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz die Nähe zu den Menschen aus Ludwigshafen - und fragt nach dem Sound einer diversen Stadt

13.06.2022 UPDATE: 19.06.2022 06:00 Uhr 5 Minuten, 39 Sekunden
Das Ensemble Colourage. Foto: Christian Kleiner

Von Jesper Klein

Wenn die Stadt Ludwigshafen ein Song wäre, welcher wäre es? Diese Frage prangt an einer Pinnwand im Ludwigshafener Pfalzbau. Die Besucher können per Klebezettel antworten. "Ein sehr langer Mixtrack mit verschiedenen Genres", steht auf einem. "Eher traurig" auf einem anderen. Das erste transkulturelle Festival "So klingt LU" stellt Fragen, auf die Antworten nicht immer leicht zu finden sind. Gibt es überhaupt so etwas wie den Soundtrack, das klingende Profil einer Stadt? Und welche Rolle spielt Musik für unsere Identität?

Wir begeben uns auf die Suche. Es ist kein Zufall, dass sich die Stadt Ludwigshafen im Mittelpunkt dieser Versuchsanordnung befindet. Die Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz, die das Festival in Kooperation mit dem Beirat für Integration und Migration der Stadt ausrichtet, ist als Orchester zwar ein bekannter Teil im Musikleben des Nachbarbundeslandes. Ihre Heimatstadt Ludwigshafen verbindet man hingegen kaum mit klassischer Musik. Es ist kein Geheimnis, dass viele im Publikum den Weg aus Heidelberg und Mannheim über den Rhein genommen haben. Mit der ersten Ausgabe des transkulturellen Festivals möchte die Staatsphilharmonie das Orchester und die diverse Ludwigshafener Gesellschaft einander näherbringen. Mehr als die Hälfte der Ludwigshafener Bevölkerung hat einen Migrationshintergrund. Die Menschen mit einem Herkunftsbezug aus der Türkei, dem Nahen Osten, Bulgarien und Rumänien bilden dabei die größten Minderheiten der Stadtbevölkerung.

Julia Kleiner ist Mitglied im Gremium „Stadtphilharmonie“. Foto: Christian Kleiner

Julia Kleiner ist eine von ihnen. Sie steht vor der Pinnwand mit den schwierigen Fragen, am Stand des vom Orchester ins Leben gerufenen Gremiums "Stadtphilharmonie", in dem sie Mitglied ist. Es ist aus der Idee heraus entstanden, Menschen aus Ludwigshafen mit verschiedenen kulturellen Hintergründen zusammenzuführen. Fünf Menschen mit unterschiedlichen Biografien bilden Perspektiven der Stadtgesellschaft ab und stehen dem Orchester beratend zur Seite. Interesse an klassischer Musik? Nebensache. "Bevor ich Teil der Stadtphilharmonie wurde, hatte ich überhaupt keine Berührungspunkte mit dem Orchester", erzählt Julia Kleiner. "Ich habe mit klassischer Musik nichts am Hut. Musik hat mich aber schon immer geprägt, weil sie mich an Situationen erinnert, die mich geprägt haben."

Julia Kleiner ist mit zwei Kulturen groß geworden. Ihre Mutter kommt aus Thailand, ihr Vater aus Deutschland, sie selbst ist in Dielheim bei Heidelberg aufgewachsen und beschreibt sich als "halb Thai, halb Deutsch, durch und durch Kurpfälzerin". Julia Kleiner kennt sich aus in den Ludwigshafener Communities. Als Referentin für Kommunikation beschäftigt sie sich beruflich mit Diversität und macht sich für die Stimmen stark, die im Diskurs nicht laut vertreten sind. "Wir sind mit einem Bein in der Stadt verankert und mit einem Bein in der Philharmonie", sagt sie über die Arbeit im Gremium.

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Noch ist die "Stadtphilharmonie" jung. Mehr Diversität, das geht nicht von heute auf morgen. Überhaupt gab es anfangs Unsicherheit, was zu tun ist. Beobachten, lernen, selbst aktiv werden? Mittlerweile senden Kleiner und ihre Mitstreiter und Mitstreiterinnen regelmäßig Impulse an das Orchester, weisen auf Trends hin. Zum Beispiel auf die Möglichkeit, klassische Musik über das soziale Netzwerk TikTok kennenzulernen. "Man darf sich nicht entmutigen lassen und muss immer wieder neue Dinge ausprobieren", sagt Julia Kleiner. "Ludwigshafen klingt für mich urban, aber momentan noch etwas zu leise, die Stadt kann selbstbewusster auftreten", beschreibt sie den Sound der Stadt. "Vom Ghettoblaster, der die neuesten bulgarischen Hits raushaut, bis zum Pfälzer Dialekt ist alles dabei. Auch viel Gehupe der Autos."

Auf drei Bühnen im Pfalzbau treten derweil insgesamt 25 Ensembles und Künstler der Stadt auf, viele haben kleine Info-Stände aufgebaut, einige servieren landestypische Gerichte. Interessierte Besucher treffen auf einen Verein für türkische Kunstmusik oder den Chor der Orientalischen Musikakademie Mannheim. Sie hören kurdische Folklore, einen arabischen und einen griechischen Chor, aber eben auch ein Oktett der Staatsphilharmonie.

Entspricht das der Musik der Bevölkerung? Schon eher. "Wir wollen sichtbar machen, was nicht sichtbar ist", sagt André Uelner, Agent für Diversitätsentwicklung bei der Staatsphilharmonie. Im Gegensatz zu den Theatern des Landes ist eine solche Stelle bei Orchestern heute noch eine Seltenheit. "Der Diskurs ist in den Orchestern am wenigsten weit fortgeschritten", sagt Uelner über die Frage nach der Diversität. Aufgaben müssen erst festgelegt werden, oft geht es um grundsätzliche Fragen.

Percussionist Yahya Orhan Kazim Foto: Christian Kleiner

Etwa die nach unserem Kulturbegriff. Raus aus der eigenen Blase, so lautet das Ziel vieler Kulturinstitutionen. Der Wunsch: ein Angebot für alle Menschen. Doch der Weg ist herausfordernd und führt durch ein Terrain der verhärteten Fronten. Ein Beispiel liefert der Stellenwert schwarzer Komponisten in der klassischen Musik. Als der Musikwissenschaftler Philip Ewell in einer Reihe von Aufsätzen die weiße Zusammensetzung des Kanons kritisierte, schlug ihm auch eine Welle der Empörung entgegen. Ist es rassistisch, nur die Musik von Mozart, Beethoven und Brahms zu hören?

Sicher nicht. Und doch ist es ein Teil der unbequemen Wahrheit, dass besonders Konzertveranstalter in puncto Diversität erschreckend weit am Anfang stehen. Immerhin: An der New Yorker Metropolitan Opera begann in der 138-jährigen Geschichte des Hauses eine Spielzeit erstmals mit dem Musiktheater eines afroamerikanischen Komponisten. Und auch am Theater Heidelberg wird in der kommenden Spielzeit erstmals das Werk einer afroamerikanischen Komponistin in einem Philharmonischen Konzert gespielt. Es ist ein erster Schritt, diese Musik überhaupt sichtbar und hörbar zu machen.

Auch in den Institutionen selbst muss das Bewusstsein für Diversität erst geweckt werden. Und so ist Uelner nicht nur Kommunikator nach außen, sondern wirkt auch in die eigene Organisation hinein. Wenn die Rädchen der Maschinerie von Theatern, Orchestern oder Festivals erst einmal laufen, braucht es hin und wieder ein Steinchen im Getriebe. Denn Erfahrungen von Ausgrenzung und Alltagsrassismus machen Betroffene auch in Kultureinrichtungen, die mit verschlossenen Türen oft etwas Elitäres an sich haben. Eine Muslima berichtet anonym von dem Gefühl, im Konzertsaal nicht willkommen zu sein. Das wiederum macht Orchestermitglieder betroffen, die sich über ein diverses Publikum freuen. Solche Begegnungen sollen Nähe und Austausch bringen. In Ludwigshafen treffen unter dem Titel "Sound of you" Menschen aus der Stadtgesellschaft und des Orchesters aufeinander. Die Videos sind auf dem YouTube-Kanal der Staatsphilharmonie abrufbar.

Es ist ein Beispiel für die Arbeit gegen Vorbehalte, für das Miteinander von Kulturen, das mit Blick auf die demografische Entwicklung weiter an Bedeutung gewinnen wird. Während die Gesellschaft in den kommenden 20 Jahren erheblich diverser werden wird, machen sich die Orchester des Landes erst auf den Weg, sagt André Uelner. Dabei entstand die Staatsphilharmonie 1919 gerade durch bürgerliches Engagement.

Die Erkenntnisse unterstreicht eine von der Staatsphilharmonie in Auftrag gegebene Studie unter Orchestermusikern mit einer Herkunftsgeschichte aus der Türkei sowie dem Nahen und Mittleren Osten. Die Frage: Wie divers sind Orchester? Die Antwort auf dem Titelblatt der Studie: 0,63 Prozent. Ermittelt hat Uelner 62 festangestellte Musiker mit entsprechendem Hintergrund, bei 9766 Planstellen in insgesamt 129 Berufsorchestern des Landes. Die Orchester spiegeln in dieser Hinsicht kaum die Gesellschaft wider. Der Anteil Menschen dieser Herkunft liege im Raum Mannheim/Ludwigshafen, so Uelners Schätzung, jenseits der 10 Prozent.

Das Ensemble Colourage in Aktion bei „So klingt LU“. Foto: Christian Kleiner

Die Ergebnisse der Studie fallen gemischt aus und erfordern einen differenzierten Blick. Leistung geht über Herkunft liest man auf der einen Seite. Auf der anderen schildern Betroffene in anonymisierter Form sensible Erfahrungen von Alltagsrassismus. Einiges bleibt unausgesprochen. "Die wirklich interessanten Themen kommen erst zur Sprache, wenn das Mikrofon aus ist", berichtet Uelner aus eigener Erfahrung.

Zum Abschluss des Festivaltages spielt in Ludwigshafen das Ensemble Colourage auf der großen Bühne des Pfalzbaus. Es gründete sich 2020 als namentliche Verschmelzung von Colour, Collage und Courage und setzt sich aus Musikern der Staatsphilharmonie, der Orientalischen Musikakademie Mannheim und der Popakademie Baden-Württemberg zusammen. Seine Mission ist es, die Bereiche zwischen der sogenannten mitteleuropäischen Kunstmusik und südosteuropäisch-orientalen Musiktraditionen zu bespielen. Mit traditionellen Instrumenten wie Kanun (einer Zither) und Oud (einer Laute), möglichst ohne Begrenzungen. Bei den Proben wurde deutlich, wie groß die Herausforderung ist, die verschiedenen Traditionen und Spielweisen, ja musikalischen Welten zusammenzubringen.

Auf der Bühne im Pfalzbau ist davon nicht mehr zu spüren. Im Kleinen steckt in dieser Formation der Geist der ersten Ausgabe von "So klingt LU". Ein demokratisches Ensemble spielt selbst geschriebene Stücke, die in keine Schublade passen. Künftig soll die Arbeit des Ensembles noch stärker auf das gesamte Orchester ausstrahlen und so Musik, die beim Stammpublikum der Staatsphilharmonie weniger präsent ist, prominenter ins Licht stellen. Am Ende des Tages gibt es stehende Ovationen für das Ensemble und diesen Schritt zu mehr Diversität. "Der Anfang einer hoffentlich neuen Tradition", sagt Intendant Beat Fehlmann. Es werden weitere Takte folgen.


RNZ-Serie: IDENTITÄT

Identität – kaum ein Begriff hat in den vergangenen Jahren mehr gesellschaftliche Debatten ausgelöst. Darum wollen wir in einer Serie genau den Fragen nachgehen: Wer bin ich? Wie wurde ich der, der ich zu sein scheine? Welche Rollen spielt man in seinem Leben? Also: Was prägt Identität?

Die Volontäre der RNZ haben daraus eine Reportage-Serie gemacht, die in den kommenden Wochenenden im Magazin erscheinen wird. Darin beleuchten wir die verschiedenen Facetten des großen Themas – von der philosophischen Betrachtung, über identitätsstiftendes Brauchtum, vom Gendersternchen bis zu Brüchen in der Biografie, die Identität ins Wanken bringen können.

Für die heutige Folge geht Jesper Klein, Volontär im Feuilleton, der Frage nach, wie Musik eine Stadtgesellschaft prägen kann. Kommende Woche schreibt Robin Höltzcke über einen Menschen mit Borderline-Syndrom.

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