Ein Lied - zwo, drei, vier: Ensembleszene aus Markolf Naujoks Inszenierung „Der Untertan“ nach Heinrich Manns Roman mit Magdalena Neuhaus, Daniel Friedl, Hendrik Richter, Daniel Noël Fleischmann, Andreas Seifert und Nicole Averkamp (von links). Foto: S. Reichardt
Von Volker Oesterreich
Heidelberg. Die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, sie begann womöglich schon am 27. Januar 1859 mit der Geburt des Hohenzollern-Prinzen Friedrich Wilhelm Viktor Albert, der als Wilhelm II. im Dreikaiserjahr 1888 den Thron bestieg und nicht nur König von Preußen, sondern auch letzter Kaiser des von Bismarck geformten Deutschen Reiches wurde. Im November 1918 musste er abdanken, woraufhin er mit zig Güterwagons voller Kunstschätzen ins holländische Exil zog, wo er bis ins hohe Alter hinein großdeutsch-nationalistische Träume träumte und sich zwischendurch die Zeit mit Holzhacken vertrieb. Mit seinem rechten Arm natürlich, denn der linke war von Geburt an verkrüppelt.
Dieses persönliche Manko spielt auch in Markolf Naujoks Inszenierung frei nach Heinrich Manns satirischem Zeitroman "Der Untertan" eine gewichtige Rolle. Alles war während der Ära Willis des allerletzten irgendwie verkrüppelt: der preußische Kadavergehorsam, der nach oben buckelnde und nach unten tretende Untertanengeist, der verschwiemelte Nationalismus sowie der Hass auf arbeitslose Demonstranten, auf Juden und auf Sozialdemokraten.
Heinrich Manns Roman wurde schon vor Anbruch des Ersten Weltkriegs vollendet, aber an seinem Ende klingt das große Schlachten der Stahlgewitter schon in Form eines apokalyptischen Gewitters an: Es bricht los während einer patriotischen Feier anlässlich der Einweihung eines Denkmals für Wilhelm den Großen (wie während der Kaiserzeit der 1888 gestorbene Großvater Wilhelms II. genannt wurde).
Gezeigt wird dieser Abend gastweise in der Hebelhalle, weil sich die Sanierungsarbeiten in der Zwingerstraße verzögert haben. Die sehr theatertaugliche Atmosphäre dieser Halle tut dem revueartigen Zuschnitt der Produktion ausgesprochen gut. Patriotisch-nationalistisches Liedgut von der "Wacht am Rhein" bis zum nationalsozialistischen Kampflied "Bomben auf Engelland" kontrastieren hervorragend mit dem Untertanengeist Diederich Heßling, der im Elternhaus und in der Schule, bei seinen Corpsstudenten und vom Militär gedrillt wird, seinen Kaiser immerfort anhimmelt, aber seinen Mitmenschen übel mitspielt. Die Regie und das Sounddesign Markolf Naujoks scheinen ein wenig vom musikalischen Genie Franz Wittenbrink und Christof Marthaler inspiriert worden zu sein. Die kritische Reflexionsebene wird extrem erweitert, wenn ein emphatischer Bericht über das Gemetzel am Ende des "Nibelungenlieds" mit dem düsteren Trauermarsch aus Wagners "Götterdämmerung" verknüpft wird, dazu verwackelte Projektionen von Kaiserparaden und Kriegsruinen.
Das Bühnensextett ist darstellerisch und gesanglich ganz auf der Höhe: Nicole Averkamp, Daniel Noël Fleischmann, Daniel Friedl, Magdalena Neuhaus, Henrik Richter und Andreas Seifert zeigen mal als Erzähler, mal als Chorsänger, vor allem aber in ihren Spielszenen, dass während des Wilhelminismus viele Menschen zu untertänigen Charakterkrüppeln verbogen wurden. Von wegen herrliche Tage!
Das Gewitter am Roman-Ende war ein Vorspiel nur. "Der Umsturz der Macht von Seiten der Natur war ein Versuch mit unzulänglichen Mitteln", heißt es auf den letzten Seiten. Heinrich Mann verlangte nach politischen und gesellschaftlichen Konsequenzen. Deshalb wurde er von nationalistischen Kreisen als Asphaltliterat denunziert. Eine ganz ähnliche Wirkung wie seine Gewitterszene hatte rund vier Jahrzehnte später ein Unwetter, das in Günter Grass’ "Blechtrommel" während einer NS-Veranstaltung für ein anarchisch-satirisches Chaos sorgt.
Doch zurück zum Theaterabend und dessen Protagonisten Diederich Heßling, der vom Darstellerkollektiv als "Mensch im gefährlichen Zustand des Fanatismus" vorgeführt wird. Es genügen wenige Requisiten, ein paar wilhelminische Uniformen und die gekonnte parodistische Unterstützung durch den Männergesangverein Kirchheim für eine rundum geglückte Produktion, die nicht sklavisch am Text des Buches klebt, aber dennoch dem Geist des Werks ausgezeichnet gerecht wird. Entsprechend dankbar klingt der kräftige Premierenapplaus.
Info: www.theaterheidelberg.de