Holger Schultze inszeniert zum Saison-Auftakt Molières "Tartuffe"
Es wird gelogen, dass sich die Balken biegen. Das begeisterte Publikum spendet viel Applaus.
Von Volker Oesterreich
Heidelberg. Seit 596 Tagen hat es im Marguerre-Saal des Heidelberger Theaters keine Premiere mehr gegeben. Coronabedingt. Nun ist diese Zeit der kulturellen Ödnis endlich vorbei! Und was kann es da Besseres geben, als diesen Neuanfang mit einem Klassiker der Komödien-Literatur zu feiern, mit Molières "Tartuffe"?!
Darin wird gelogen, dass sich die Balken biegen, und das passt in der Post-Trump-Ära, aber auch ganz aktuell während des Bundestagswahlkampfs hervorragend zu den Diskursen unserer Zeit. Darauf muss man nicht mit dem Holzhammer hinweisen, denn Molières Verse haben in der glasklaren Übertragung Wolfgang Wiens einen so zeitlosen Pep, dass eine inszenatorische Anbiederung an unser multimediales Allerlei mit dessen Polit-Protagonisten, Wahlkampfberatern und Lobbyisten überhaupt nicht nötig ist. Das weiß auch Holger Schultze, der Heidelberger Intendant, der mit seiner allerersten Molière-Produktion voll ins Schwarze trifft, was beileibe nicht politisch zu verstehen ist. Oder vielleicht doch? Schließlich warnte der Autor mit seinem "Tartuffe" vor den Gefahren des bigotten Katholizismus, vor dem sich sogar der erzkatholische Sonnenkönig Ludwig XIV. fürchtete. Deshalb unterstützte er den dichtenden Theatermacher auch insgeheim, obwohl das Stück zwei Mal verboten wurde und überarbeitet werden musste.
Die Hintergründe über die religiösen Fundamentalisten während des Absolutismus und deren geheimbündlerische Macht in Frankreich hat die Dramaturgin Lene Grösch in einem klugen Podcast-Beitrag aufgearbeitet; anhören kann man ihre Informationen über den historischen Kontext per Mausklick auf der Homepage des Theaters. Tun Sie’s, es lohnt sich!
Traue bloß keinem Fanatiker, der sich mit verlogenen Schmeichelworten und ethischer Überheblichkeit anbiedert! Das ist die Kernaussage des Stücks. Molière und das Heidelberger Ensemble führen vor, wie das leichtgläubige Familienoberhaupt Orgon und dessen bigotte Mutter Pernelle in die Falle des so parasitären wie verlogenen Eiferers Tartuffe geraten. Andreas Uhse spielt diesen familiären Spaltpilz wie einen asketischen Rasputin. Ein Typ, der sich vor aller Augen mit der Peitsche kasteit, sich aber dennoch unverschämt übergriffig an die Hausherrin Elmire heranmacht. Eine Szene, die man gesehen haben muss. Denn Andreas Uhse und Katharina Quast gelingt in dem von Elmire als Beweismittel arrangierten Tabubruch trotz trennender Plexiglaswand eine erotisch pikante Glanznummer.
Auch interessant
Die Plexiglaswände des Designer-Gespanns Jan Hendrik Neidert und Lorena Díaz Stephens – sie sind gemeinsam verantwortlich für das Bühnenbild und den ironischen Kostüm-Historismus ganz in Weiß –, also ihre beweglichen Wände ermöglichen dem Inszenator Schultze eine flotte Taktfrequenz. Mal werden sie zu einem großen Drehkreuz arrangiert, dann wieder gestatten sie die für Komödien so wichtige Klipp-Klapp-Mechanik sich plötzlich öffnender Türen, die der Situationskomik Vorschub leistet.
Die "Absahn-Rolle" (O-Ton Schultze) des Abends hat Lisa Förster, die als schlagfertige Zofe dafür kämpft, dass Mariane, die Tochter des Hauses, nicht mit Tartuffe zwangsverheiratet werden muss. Esra Schreier changiert in dieser Tochterrolle sehr gekonnt zwischen gespielter Naivität, widerspenstigem Trotz und schmachtender Tändelei, sobald ihr wahrer Herzallerliebster Valère (Leon Maria Spiegelberg) hinterm Plexiglas zum Vorschein kommt. Steffen Gangloff, der bekannteste Komiker des Heidelberger Ensembles, trottelt den beinahe um Hab, Gut und Tochter gebrachten Hausherren Organ wie gewohnt erstklassig auf die Bretter.
Christina Rubruck, Benedict Fellmer, Hendrik Richter, Marco Albrecht und Dominik Dittrich sorgen in ihren Rollen für weitere komödiantische Aha-Effekte. Alle zusammen kommen beim Premierenpublikum so gut an, dass am Ende begeistert geklatscht wird.
Noch ein Tipp zum Schluss: Rechtzeitig kommen, da es wegen der Corona-Sicherheitsmaßnahmen zu ein paar Minuten Verzögerung beim Einlass kommen kann.