Der Gewinner-Titel des Deutschen Buchpreises 2019: Saša Stanišics "Herkunft". Foto: Heribert Vogt
Von Heribert Vogt
Frankfurt/Heidelberg. Die Stadt Heidelberg ist - fast - in aller Munde. Denn der aktuelle Träger des Deutschen Buchpreises, Saša Stanišic, ist hier aufgewachsen. Und die Neckarstadt spielt in dem Gewinner-Buch "Herkunft" (Luchterhand) eine große Rolle. Als stark gefragter Mann betrat Stanišic am gestrigen Mittwoch schon früh die Messe-Bühne des Blauen Sofas, sprach über seine Lebensgeschichte und las eine Heidelberg-Passage aus dem Roman. Während es darin eher heiter zuging, führte die Schilderung seiner Flucht zurück in den grausamen Bosnienkrieg.
Und dass diese Erlebnisse bis heute unvergessen sind, zeigt seine Wellen schlagende Kritik an Literaturnobelpreisträger Peter Handke sowie an dessen Texten über seine Heimat. In Bezug auf Handke empfinde er jedoch "eher Erschütterung als Wut", so Stanišic. Dem Nobelpreisträger attestierte er eine "gute Sprache", jedoch auch "unfassbare Ignoranz".
Schlimme Welle von Gewalt
Aber die Frankfurter Buchmesse führte gleich zu Beginn auch mittenhinein in die harten Konflikte unserer aufgewühlten Gegenwart. Vor dem Hintergrund der schockierenden Welle von Gewalt, Hass, Antisemitismus und Rechtsextremismus in Deutschland rief der frühere Bundespräsident Joachim Gauck mit seinem Buch "Toleranz: einfach schwer" (Herder) zu einem friedlichen Miteinander auf. Nötig sei heute - 30 Jahre nach dem Mauerfall - eine "kämpferische Toleranz". Erst diese mache das friedliche Zusammenleben verschiedener Kulturen in einer "offenen Gesellschaft" möglich.
Heiter, aber auch ernst gab sich der in Heidelberg aufgewachsene Autor Saša Stanišic auf der Buchmesse. In Sachen Peter Handke legte der Träger des Deutschen Buchpreises nicht nach, er blieb jedoch grundsätzlich bei seiner Kritik an dem Nobelpreisträger. Foto: Heribert Vogt
Die andere Seite dieser Frontlinie beleuchtet die österreichische Terrorismusforscherin Julia Ebener mit ihrem Band "Radikalisierungsmaschinen. Wie Extremisten die neuen Technologien nutzen und uns manipulieren" (Suhrkamp), das "nach Halle als das Buch der Stunde" bezeichnet wurde. Julia Ebner verfolgt hauptberuflich Extremisten: Undercover mischt sie sich unter Hacker, Fundamentalisten, Verschwörer und Terroristen bis hin zum Islamischen Staat. Ihr Buch macht das Phänomen Radikalisierung fassbar und ist ein unmissverständlicher Weckruf.
Im weltweit tobenden Machtkampf ist Russland ein bedeutender Player. Udo Lielischkies, langjähriger ARD-Fernseh-korrespondent in Moskau und Kenner Wladimir Putins wie der russischen Politik sprach über sein Buch "Im Schatten des Kreml" (Droemer). Darin geht es auch um das Leben in der Metropole Moskau und in der weiten russischen Provinz, wo der Präsident sein großes Wählerreservoir hat. Während Lielischkies die "russische Seele" schätzt, ist er ein entschiedener Kritiker des "Fast-Zaren" Putin.
Ein Porträt dieses weltpolitischen Giganten liefert die Journalistin Erika Fatland aus dem Buchmesse-Gastland Norwegen mit ihrem Buch "Die Grenze. Reisebericht" (Suhrkamp). Sie umrundet das größte Land der Erde durch seine 14 Anrainerstaaten und betrachtet es aus der Sicht der Nachbarn. Diese ist auch in dem Roman "Graue Bienen" (Diogenes) des ukrainischen Schriftstellers Andrej Kurkow stark ausgeprägt. Das Buch dreht sich um die Leiden der Zivilbevölkerung in der Ostukraine. Es beschreibt den Alltag kleiner Leute, die im dortigen Krieg zwischen die Frontlinie, die sogenannte Graue Zone, geraten sind.
Auch große Konflikte der Geschichte sind auf der Buchmesse wieder ein Thema. So jährt sich 2020 zum 150. Mal der Beginn des Deutsch-Französischen Krieges im 19. Jahrhundert. Dazu erscheint von Klaus-Jürgen Bremm der Titel "70/71. Preußens Triumph über Frankreich und die Folgen" (Wissenschaftliche Buchgesellschaft). Vergleicht man die damalige Lage mit dem heutigen Europa, so treten die Errungenschaften der Gegenwart glasklar vor Augen.
Gerade im aktuell explosiven Weltgemisch haben aber offenbar auch Märchen wieder Konjunktur, wie zwei gleichzeitige Messe-Auftritte zeigen. Zum einen stellte die Autorin Felicitas Hoppe, 2016 Heidelberger Poetikdozentin, ihr Buch "Grimms Märchen für Heldinnen von heute und morgen" (Reclam) vor. Sie lädt dazu ein, auf einem Streifzug durch die Märchenwelt die starke Seite der dortigen Frauenfiguren zu entdecken. Die Märchen seien "ein Spiegel unserer Zeit", auch in ihnen gehe es häufig um Not und Vertreibung, so Hoppe.
Zum anderen sprach die Illustratorin Kat Menschik über ihr Buch "Die Puppe im Grase - Norwegische Märchen" (Galiani). Christen Peter Asbjornsen und Jorgen Moe gelten als die Brüder Grimm des Nordens: Sie haben im 17. Jahrhundert begonnen, Märchen zu sammeln und aufzuschreiben. Kat Menschik hat eine Auswahl der Märchen aufgenommen.
Aber auch große Geister der Vergangenheit können in unserer spannungsgeladenen Welt Orientierung bieten. Das gilt etwa für den Literaturnobelpreisträger Günter Grass und den Großkritiker Marcel Reich-Ranicki, die beide auf ihre Art Kämpfer für die Demokratie waren. Volker Weidermann vom heutigen "Literarischen Quartett", der in Heidelberg studierte, beschreibt in seinem Buch "Das Duell" (Kiepenheuer & Witsch) das Verhältnis der zwei Protagonisten: Sie hätten einen "jahrzehntelangen Kampf" geführt, hin- und hergerissen "zwischen Anziehung und Abstoßung".
Peter Handke.
Foto: F. Mori
Ein legendärer Friedensstifter - vielleicht der größte - war der indische Widerstandskämpfer Mahatma Gandhi, der soeben 150. Geburtstag hatte. Ilija Trojanow hat dazu die Biographie "Mahatma Gandhi. Mein Leben" (Beck) herausgegeben.
Und es fügt sich 2020, dass zwei größte mit Heidelberg verbundene Geistesvertreter ihren 250. Geburtstag feiern, die schon gemeinsam im Tübinger Stift lebten: Friedrich Hölderlin am 20. März und Georg Wilhelm Friedrich Hegel am 27. August. Von Hölderlin stammt das vielleicht schönste Heidelberg-Gedicht, und Hegel war von 1816 bis 1818 Professor an der Universität Heidelberg.
Klaus Vieweg legt nun die Biographie "Hegel. Der Philosoph der Freiheit" (Beck) vor und Rüdiger Safranski die Biographie "Hölderlin. Komm! ins Offene, Freund!" bei Hanser, wo weitere Titel zu dem Dichter erscheinen.