RNZ-Interview über Henry David Thoreau

Widerstand mit Heidelbeeren

So modern wie eh und je: Gespräch mit dem Anglisten Dieter Schulz über Henry David Thoreau - Vor 200 Jahren wurde er geboren

11.07.2017 UPDATE: 12.07.2017 06:00 Uhr 3 Minuten, 10 Sekunden

Weil er Steuern verweigerte, landete er im Gefängnis: der amerikanische Schriftsteller und Philosoph Henry David Thoreau auf einem Stich aus dem Jahr 1861. Foto: Imago

Von Sebastian Blum

Mahatma Gandhi, Martin Luther King, Nelson Mandela - ohne die Idee des "zivilen Ungehorsams" wäre das 20. Jahrhundert anders verlaufen. Noch heute, etwa beim G 20-Gipfel in Hamburg, spukt der Begriff durch die Köpfe. Henry David Thoreau (1817-1862) lieferte mit seinem Essay "Civil Disobedience" die Theorie. Heute vor 200 Jahren wurde der amerikanische Schriftsteller und Philosoph geboren. Er bewohnte zwei Jahre lang eine Waldhütte und sammelte Beobachtungen über Mensch und Natur. Als Hauptwerk gilt sein Buch "Walden" (1854). Gegen Krieg und Sklaverei protestierte Thoreau, indem er sich weigerte, Steuern zu zahlen. Dafür steckte man ihn für eine Nacht ins Gefängnis. Aber statt am nächsten Morgen eine politische Bewegung zu gründen, ging er Heidelbeeren sammeln. Der Heidelberger Anglist Dieter Schulz ist Thoreau-Experte und hat gerade ein Buch über ihn veröffentlicht. Die RNZ traf ihn zum Gespräch.

Prof. Dieter Schulz.

Foto: zg

Herr Prof. Schulz, "ziviler Ungehorsam" zeigt sich in Massenbewegungen gegen den Staat und seine Politik. Thoreau schrieb den entscheidenden Essay darüber - und ging Beeren sammeln. Wie passt das zusammen?

Massenbewegungen oder Organisationen waren Thoreau zuwider. Er sträubte sich gegen jede Form von staatlicher oder gesellschaftlicher Autorität, gegen den organisierten Protest. In "Civil Disobedience" sieht man, wieso. Für Thoreau ist die zentrale Instanz, die moralisches Handeln leiten soll, das Gewissen des Einzelnen. Die Annahme ist: Wenn jeder auf sein Gewissen hören würde, hätten wir keine Sklaverei.

Zog er sich in eine Waldhütte am Walden-See zurück, um über die Ungerechtigkeit der Welt zu philosophieren?

Nein, Thoreau war durchaus aktiv. Nur nicht in Organisationen. Er war ein scharfer Gegner der amerikanischen Verfassung, die ja die Sklaverei legitimiert hatte. Deshalb vollführt er mit ihr rhetorisch das, was buchstäblich zum Ritual der Sklavereigegner am Nationalfeiertag, dem 4. Juli, gehörte: Er ‚verbrennt‘ sie. Er hielt flammende Reden gegen die Sklaverei und den "Fugitive Slave Act" von 1850 - die rechtliche Grundlage, auf der entlaufene Sklaven in den Nordstaaten eingefangen und zurück in den Süden verfrachtet wurden. Entflohene Sklaven nahm er bei sich auf und brachte sie zum Zug nach Kanada, in die Freiheit. Er verweigerte Steuern, weil sie eine ungerechte Politik finanzierten, wie zum Beispiel den Krieg gegen Mexiko 1846-1848.

Donald Trump würde ihn heutzutage vermutlich als unpatriotisch bezeichnen.

Natürlich müsste man dafür Trumps Verständnis von Patriotismus diskutieren, das lassen wir lieber. Während meines ersten USA-Aufenthalts 1969-72 kochte der Protest gegen den Vietnamkrieg. "Ziviler Ungehorsam" war eine der Bibeln der Antikriegsbewegung. Damals kam mir sein Hauptwerk "Walden" in die Hände. Lies mal ’was Amerikanisches, hatten mir Freunde geraten, weniger Hawthorne oder Poe, die kannst du auch nach Europa packen. Etwas wirklich Amerikanisches über Selbstverantwortung, Individualismus, die Nähe zur Natur und die Verneinung von Konventionen liefert dir Thoreau. Für seinen Mentor Ralph Waldo Emerson war Thoreau "der wahrste Amerikaner, den es je gegeben hatte". Indem er sich zeitweise aus der Gesellschaft zurückzog, gewann er eine Außenperspektive auf deren Konventionen und Praktiken. Sofern wir uns von diesen Konventionen noch immer gängeln lassen, bleibt Thoreau aktuell.

Das müssen Sie näher erklären.

Thoreaus ganzes Werk ist durchzogen von massiver Kritik an dem, was in Amerika tatsächlich passiert - wohlgemerkt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Das erste Kapitel von "Walden" ist eine einzige Kritik an dem, was später Kapitalismus und Marktliberalismus genannt wird. Thoreau erkannte, dass der amerikanische Weg zum Glück im Sinne von materiellem Wohlstand für große Teile der Bevölkerung zur Belastung wird. Man leidet unter dem Druck von sekundären Bedürfnissen, von Markt und Mode. Häuser werden zu Statussymbolen, Kleidung wird von Mode regiert, die Natur wird zum Produkt. Was der Einzelne will und braucht, gerät nicht einmal mehr in den Blick.

Das war schon vor 200 Jahren so?

Thoreau betrachtet das Amerika des frühen 19. Jahrhunderts, aber der durch ökonomische Mechanismen erzeugte Leidensdruck - das, was er in "Walden" als Leben "stiller Verzweiflung" bezeichnet - hat eher noch zugenommen. In den zwei Jahren, die er in der Hütte am Walden-See verbrachte, hat er ein alternatives Leben ausprobiert, ein Leben im Einklang mit der Natur. Ganz nebenbei entstand bei seinen Naturstudien ein Modell für die Klimaforschung. Dass allerdings heute ein Lifestyle-Magazin "Walden" als Vorbild für gestresste Manager betrachtet und Wochenend-Tipps für kostspielige "Outdoor"-Abenteuer liefert, ist absurd. Denn damit wird gerade jener Materialismus wieder eingeführt, gegen den Thoreau zeitlebens polemisiert hat. Man sieht daran, wie weit die Kultfigur Thoreau sich von seinen Idealen entfernt hat.

Gehen Sie in Ihrem neuen Buch über Thoreau darauf ein?

Auch. Aber ich stelle den Kult um ihn nicht in den Vordergrund. Thoreaus größter Ehrgeiz lag darin, Schriftsteller zu werden. Neben "Walden" und "Civil Disobedience" hat er erstklassige Reisebücher, Essays und Tagebücher verfasst; die sind viel zu wenig bekannt. Thoreau mag Mandela und Gandhi inspiriert haben, löste womöglich politische Bewegungen aus. Aber er war ein brillanter Stilist. Mir geht es bei seinen Texten ähnlich wie dem italienischen Kritiker Cesare Pavese beim Lesen von "Moby Dick": Man atmet tiefer.

Info: Dieter Schulz: "Henry David Thoreau - Wege eines amerikanischen Schriftstellers". Mattes Verlag, Heidelberg 2017. 223 Seiten, 18 Euro.

(Der Kommentar wurde vom Verfasser bearbeitet.)
(zur Freigabe)
Möchten sie diesen Kommentar wirklich löschen?
Möchten Sie diesen Kommentar wirklich melden?
Sie haben diesen Kommentar bereits gemeldet. Er wird von uns geprüft und gegebenenfalls gelöscht.
Kommentare
Das Kommentarfeld darf nicht leer sein!
Beim Speichern des Kommentares ist ein Fehler aufgetreten, bitte versuchen sie es später erneut.
Beim Speichern ihres Nickname ist ein Fehler aufgetreten. Versuchen Sie bitte sich aus- und wieder einzuloggen.
Um zu kommentieren benötigen Sie einen Nicknamen
Bitte beachten Sie unsere Netiquette
Zum Kommentieren dieses Artikels müssen Sie als RNZ+-Abonnent angemeldet sein.