Südwest

Wie die Zukunft der Ärzte im ländlichen Raum aussehen könnte

Hausärztemangel, Krankenhausplanung, fehlende Pflegeplätze: In der Gesundheitspolitik warten große Baustellen, doch es gibt auch schon Vorbild-Projekte

16.02.2021 UPDATE: 17.02.2021 06:00 Uhr 4 Minuten, 13 Sekunden
Ärzte, Therapeuten, Hebammen, Pflegefachkräfte und Sozialarbeiter: Alle arbeiten unter einem Dach im „PORT Gesundheitszentrum“ in Hohenstein. Foto: Schmitz

Von Jens Schmitz, RNZ Stuttgart

Hohenstein. Die Zukunft der deutschen Gesundheitsversorgung steht auf der Schwäbischen Alb, da sind die Akteure sich sicher. Während Mediziner im ländlichen Raum sonst knapp werden, entschied Allgemeinärztin Angelika Meyer sich vor eineinhalb Jahren, 90 Kilometer zu pendeln, um in der 3700-Seelen-Gemeinde Hohenstein eine Praxis zu eröffnen. "Das Konzept ist innovativ", schwärmt sie über das dortige "PORT Gesundheitszentrum". "Genau das, was es braucht!" Kinderarzt Wilfried Henes stimmt zu: "Man hat direkten Kontakt zu Mittherapeuten, kann eine ganzheitlichere Sichtweise an den Patienten heranbringen." Seine Frau Regine, Hebamme, arbeitet im selben Gebäude.

Lichte Räume, bewegliche Wände, Pflanzen zwischen Infostation und offener Küche: Auf der Hochfläche am Rand des Ortsteils Bernloch hat ein Konzept Gestalt angenommen, das in Deutschland Pionierfunktion hat – und Systemgrenzen sprengt. Hier werden Lösungsansätze für Probleme getestet, die zu den schwierigsten der nächsten Legislaturperiode gehören. Schon deshalb, weil sie selten vom Land allein gelöst werden können.

Das "PORT Gesundheitszentrum Schwäbische Alb" ist ein Versorgungspunkt nach skandinavischem Vorbild, getragen vom Landkreis Reutlingen und der Gemeinde. Ärzte, Therapeuten, Hebammen, Pflegefachkräfte und Sozialarbeiter arbeiten dort in einem Gebäude zusammen, besprechen Beschwerden in interdisziplinären Fallkonferenzen. Patientenlotsin Elisabeth Reyhing begleitet Menschen durch das Gesundheitssystem, hilft bei der Suche nach Ansprechpartnern, Haushaltsunterstützung oder auch Impfterminen. Oft genug wird sie als Sozialberaterin tätig. "Diese Zeit hat ja kein Doktor mehr."

Wenn nicht gerade Corona-Beschränkungen herrschen, sorgen Vortrags- und Kursangebote für ein offenes Haus. Auch jetzt sind die 30 Parkplätze vor dem flachen Modulbau gut belegt. Prävention und Gesundheitsförderung werden großgeschrieben in Hohenstein, das als "Gesunde Gemeinde" zertifiziert ist. "Uns ist es wichtig, dass wir uns als Bevölkerung in Gänze in ein solches Zentrum einbringen können", sagt Bürgermeister Jochen Zeller (parteilos). Neben einer Bürgerbeteiligung für das Projekt schlagen Verbindungen zu Nachbarschaftshilfe, Seelsorge, Kindergärten, betreutem Wohnen und den Vereinen Brücken in die Kommune.

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„Diese Zeit hat ja kein Doktor mehr“: Patientenlotsin Elisabeth Reyhing ist die „Kümmererin“ im Gesundheitszentrum auf der Alb. Foto: Schmitz

Sektorenübergreifende Versorgung ist da Realität. "De facto ist das ein richtig klasse Service am Patienten", sagt Projektmanager Friedemann Salzer, der früher Geschäftsführer eines Klinikums war. "Donnerstags ist immer ein Chefarzt des Zentrums für Psychiatrie in Zwiefalten hier und behandelt die Bevölkerung psychiatrisch. Das ist für die Menschen ganz toll, nicht nach Zwiefalten zu müssen, weil das unglaublich stigmatisiert ist."

Auch bei der Digitalisierung gehört das Projekt zu den Vorreitern. "Wir sind beispielsweise über Telemedizin mit der Hautklinik in Tübingen verknüpft", erklärt der Reutlinger Landrat Thomas Reumann (parteilos). So könne man gemeinsam mit den Experten besprechen, ob Patienten überhaupt in der Fachklinik vorstellig werden müssten. Qualitativ hochwertige Zentren, verknüpft mit Vor-Ort-Angeboten wie dem PORT: "Das, glaube ich, ist die Zukunft!"

PORT steht für "Patientenorientierte Zentren zur Primär- und Langzeitversorgung"; der Begriff verdankt sich der Robert-Bosch-Stiftung, die seit 2017 bundesweit vier Initiativen für eine bessere Gesundheitsversorgung fördert. So weit wie in Baden-Württemberg ist man allerdings nirgends. Die Hans-Schwörer-Stiftung des örtlichen Bauunternehmens SchwörerHaus half mit den Räumen. Weitere Unterstützung kam vom Land.

Das Projekt ist in vielerlei Hinsicht wegweisend. Bis es zum Regelfall werden kann, müssen nicht nur Erfahrungen gesammelt, sondern vor allem auf Bundesebene Bestimmungen verändert werden. Die nächste Landesregierung kann darauf nur indirekt hinwirken. Drängende Probleme muss sie sich auf anderen Wegen annehmen.

Dazu gehören neben der Corona-Pandemie auch ihre Folgen. In allen Bereichen des Gesundheitswesens wird hinterfragt, ob die bisherigen Reserven an Betten und Ausrüstung ausreichen, wie im Ernstfall Unabhängigkeit von ausländischen Lieferketten gewährleistet werden kann. Der Öffentliche Gesundheitsdienst, lange belächelt, gilt als dringend ausbaubedürftig, seit die Gesundheitsämter mit der Covid-Nachverfolgung nicht mehr hinterherkommen. Die Impfstoff-Entwicklung hat daran erinnert, dass Baden-Württemberg große Stärken in der Gesundheitswirtschaft und in der Hochschulmedizin hat. Auch die müssen in einem härter werdenden Wettbewerb verteidigt werden.

Mittelfristig geht es zunächst um die Grundversorgung. Die Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) rechnet damit, dass innerhalb von fünf Jahren in Baden-Württemberg 400 bis 600 Hausarzt-Praxen entfallen, langfristig entstehe ein gravierender Nachbesetzungsbedarf.

Im ländlichen Raum finden viele Hausärzte keine Nachfolger. Der Grund? Kaum einer will noch „Alleinkämpfer“ sein. Foto: dpa

Das hat weder nur demografische Ursachen, noch rein finanzielle. Landrat Reumann berichtet von der ersten Kommunalen Gesundheitskonferenz Baden-Württembergs, die sein Kreis 2010 einberufen hat. Das Gremium befragte angehende Mediziner nach Gründen, die sie von einer Ansiedlung in den ländlichen Raum abhielten. Ganz oben auf der Liste: familienunfreundliche Arbeitsbedingungen, Investitionsbedarf, weniger Bildungsmöglichkeiten für Kinder, mangelnde Arbeitsplatzangebote für Partner, dünnere Freizeit- und Kulturangebote.

"Es war nicht das Geld", erinnert sich Reumann. Die Ansagen seien klar gewesen: "Wir wollen nicht mehr der Alleinkämpfer sein, der nachts im Regen über die Wiese schnürt, sondern wir wollen teamorientiert arbeiten, interdisziplinär arbeiten, Fälle miteinander besprechen."

Heute betreibt der Tübinger Lehrstuhl für Allgemeinmedizin eine Ausbildungspraxis im PORT. In Blockpraktika erleben Studierende, dass es auch auf dem Land moderne Arbeitsformen gibt. Allein im Kreis Reutlingen sind inzwischen vier bis sechs ähnliche Projekte geplant. In Filderstadt, Nußloch und den Kreisen Calw und Konstanz fördert das Land weitere Modellvorhaben.

Ganz direkt zuständig ist es für seine Krankenhausplanung. In Deutschland bestreiten die Krankenkassen zwar die laufenden Kosten der Hospitäler. Die Investitionen sind aber Sache der Länder. Die jeweiligen Träger führen ihre Häuser eigenverantwortlich.

Deutschlandweit hat Baden-Württemberg die geringste Bettendichte pro Einwohner. Nach einem Aufwuchs in den vergangenen Jahren gehört es bei den Investitionen pro Planbett dafür zu den Spitzenreitern. Dennoch schreiben viele kleine Krankenhäuser wegen schlechter Belegung Verluste. Sie binden Fachpersonal, das anderswo fehlt, und haben bei komplizierten Operationen schlechtere Ergebnisse als große Kliniken, die sie öfter vornehmen.

Zusammen mit den Kassen plädiert Gesundheitsminister Manfred Lucha (Grüne) deshalb für einen Konzentrationsprozess. Wo Kliniken schließen, sollen Gesundheitszentren und ambulante Operationen die Alltagsversorgung sicherstellen; komplizierte Fälle werden an Spezialisten vermittelt. Wie genau dieser Mix ausfällt, wird häufig neu verhandelt werden müssen. Politisch ist aber auch umstritten, wie viel Gewinnorientierung das Gesundheitssystem verträgt.

Ein weiteres Thema: Baden-Württemberg leidet unter einem Mangel an Pflegeplätzen, vor allem im Bereich der Kurzzeit- und Tagespflege. Ihm abzuhelfen ist selbst mit Geld nicht einfach, denn es fehlt Fachpersonal. Auch hier wird es deshalb ein Bündel von Strategien brauchen. Die Verantwortung für die Pflegeplanung hat das Land 2010 allerdings an die Kreise abgegeben. Von den rund 400.000 Pflegebedürftigen in Baden-Württemberg werden 55 Prozent allein durch Angehörige versorgt, also ohne professionelle Hilfe. Das ist der höchste Prozentsatz im Bundesvergleich.

Viele Stellschrauben wird das Land nur zusammen mit dem Bund verändern können. Die Fallkonferenzen im PORT werden aktuell genauso wenig von den Kassen finanziert wie Projektmanager Salzer und Lotsin Reyhing. Sie sind im System nicht vorgesehen. Doch zumindest für Hohenstein ist Salzer zuversichtlich: "In zwei Jahren muss das selber laufen."

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