"Ich will den Tod demokratisieren"

Plastinator Gunther von Hagens wird heute 75

Ein Gespräch über seine Parkinson-Krankheit, 
die Lust an der Provokation und seine geplante Wiederauferstehung.

09.01.2020 UPDATE: 10.01.2020 05:59 Uhr 6 Minuten, 21 Sekunden
April 1997: Gunter von Hagens arbeitet in seinem Institut für Plastination im Heidelberger Stadtteil Rohrbach an einem Exponat. Foto: Philipp Rothe

Von Holger Buchwald

Heidelberg. Gunther von Hagens polarisiert. Als "Dr. Tod" wird der Erfinder der Plastination und Macher der Körperwelten-Ausstellung von seinen Gegnern verteufelt, seine Fans verehren ihn als Genie. Der Anatom mit dem Hut lässt kaum jemanden kalt. Er ist einer der bekanntesten Heidelberger und lebt inzwischen vorwiegend im brandenburgischen Guben, wo er zusammen mit seinem Sohn Rurik das Plastinarium aufgebaut hat. Dort ist nicht nur ein Teil der Körperwelten-Ausstellung zu sehen, dort werden auch die einzelnen Plastinationsschritte präsentiert. Heute wird von Hagens, der vor zwei Jahren im "Alten Hallenbad" in Heidelberg ein Körperwelten-Museum eröffnet hat, 75 Jahre alt. Die RNZ traf ihn bei seiner zweiten Ehefrau Angelina Whalley in der gemeinsamen Wohnung in der Altstadt zum Interview. Seit Jahren ist der Plastinator an Parkinson erkrankt. Das Sprechen fällt ihm schwer.

Herr von Hagens, wie geht es Ihnen heute?

Besser als erwartet. Tatsächlich ging es mir schon viel schlechter. Parkinson ist eine schleichende Erkrankung. Man merkt zunächst nicht, wie die Fähigkeiten nachlassen. Es ist aber schön, wenn sie wiederkommen. So kann ich seit einiger Zeit wieder auf einem Bein balancieren, wieder Fahrrad fahren und sogar wieder riechen.

Wie haben Sie das geschafft?

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Ich habe das Tagesgeschäft in Guben an meinen Sohn Rurik abgegeben. Ich achte auf meine Ernährung, esse viel Joghurt, Beeren, Tomaten, Fisch, nur Vollkornbrot und keinen Zucker. Außerdem treibe ich täglich Kraftsport. (Gunther von Hagens lehnt sich nach vorne und spannt seinen Bizeps an.) Fühlen Sie mal! Und ich achte auf regelmäßigen Schlaf. Mein Papa ist da mein Vorbild.

*

Gunther von Hagens’ Vater Gerhard Liebchen ist fast 104 Jahre alt, erfreut sich bester Gesundheit und versorgt sich in seinem Haus in Rohrbach noch weitgehend selbst. Von Hagens plastiniert zwar selbst nicht mehr, arbeitet aber immer noch. Vor allem forscht er daran, wie die Kunststoffe, die für die Plastination genutzt werden, weiterentwickelt werden können, sodass die Präparate reißfester und flexibler werden. Und er schreibt an seiner Autobiografie.

Hadern Sie manchmal mit Ihrem Schicksal?

Nein. Trotz unserer hohen familiären Belastung – sowohl meine Mutter als auch die Schwester meines Vaters hatten Parkinson – bin ich der einzige von fünf Geschwistern, der diese Erkrankung hat. Ich als Mediziner kann mich selbst behandeln, kann neue Medikamente ausprobieren. Diese Chance hätten meine Geschwister nicht.

Haben Sie Angst vorm Sterben, oder schieben Sie das Thema weit von sich?

Weder noch. Ich habe zeit meines Lebens versucht, die Anatomie zu demokratisieren und für den Laien verständlich zu machen. Mit meiner Parkinson-Erkrankung bemühe ich mich nun um die Demokratisierung des Todes.

Das müssen Sie erklären!

Durch viel Bewegung, gesunde Ernährung sowie ausreichend Schlaf, realisiert durch einen starken Willen, kann ich auf meinen Todeszeitpunkt Einfluss nehmen. Ich bin fest davon überzeugt, irgendwann werden Menschen nicht mehr an Altersschwäche oder Krankheiten sterben, sondern nur noch an Unfällen.

Sie glauben, Sie können durch Ihren Willen den Parkinson zähmen?

Zumindest kann ich dadurch viel erreichen. Neueste Medikamente greifen zunehmend in Regelkreise von Nervenzentren unterhalb der Großhirnrinde ein. Das schaffe ich auch mit meinem Willen. Denn mein Wille wirkt von der Großhirnrinde aus auf diese untergeordneten Regelkreise, und das hat keine Nebenwirkungen.

*

Auf einmal fängt Gunther von Hagens an zu stottern. Offenbar wollte er zu viele Details auf einmal erklären. Er lehnt sich zurück, schließt die Augen. Über einen Kopfhörer hört er auf die Metronom-App seines Handys – sie auf diese Weise anzuwenden, hat er selbst erfunden. Es klingt etwas mechanisch, als er nach einer Minute sagt: "Ganz langsam und im Takt reden und denken." Er öffnet die Augen: "Jetzt bin ich wieder normal."

Foto: Philipp Rothe

Sie haben einmal gesagt, nach Ihrem Tod würden Sie sich gerne plastinieren lassen. Wie soll das aussehen? In Feldherren-Pose im Zentrum Ihres Körperwelten-Museums?

Nein. Ich würde mich gerne in Scheiben plastinieren lassen. So kann ich an mehreren Orten und auf mehreren Kontinenten gleichzeitig sein und lehren.

Die Besucher würden dann sehen, dass das die sterblichen Überreste von Gunther von Hagens sind. Damit würden Sie ein Tabu brechen. Bislang halten Sie ja die Identität der Körperspender geheim.

Wir geben die Identität nicht preis, weil die Exponate die Besucher berühren sollen. Bei der Betrachtung sollen sie sich selbst sehen. Wenn wir aber die Biografie des Körperspenders veröffentlichen, sehen sie eher das Schicksal eines anderen, das sie nicht so sehr selbst betrifft. Tatsächlich denke ich inzwischen, wir sollten in Zukunft beides machen.

Hat dieser Wunsch, sich selbst plastinieren zu lassen, etwas mit dem Traum von Unsterblichkeit zu tun?

Es ist eher der unsterbliche Wunsch des Menschen nach Selbsterkenntnis, in sich selbst hineinsehen zu können. Für mich als Erfinder der Plastination wäre die Wiederauferstehung meines befleischten Leibes für eine didaktische Ewigkeit doch passend!

*

Von Hagens wurde als Gunther Liebchen im heutigen Polen geboren, seine Eltern flohen mit ihm vor der herannahenden Sowjetarmee ins thüringische Greiz. Wegen einer seltenen Bluterkrankheit, so heißt es in der Biografie "Der Grenzgänger", sei er häufig über längere Zeit im Krankenhaus gewesen. Schon frühzeitig wuchs in ihm damals der Wunsch, Arzt zu werden. Die Klinik-Aufenthalte hätten ihn aber auch zum Außenseiter und Sonderling werden lassen.

Haben Sie diese Krankenhausaufenthalte als Kind wirklich so sehr geprägt?

(Von Hagens steht auf und streckt sich). Das hat mich noch nie jemand gefragt. (Er überlegt lange.) Ja. Das hat zu meiner Individualisierung beigetragen. Und daher treffe ich heute noch sehr schwer Entscheidungen. Ich überlege immer hin und her, grüble stundenlang über Situationen nach. Das hat sicher seine Ursprünge damals im Krankenhaus. Ich halte mich auch ungern mit unnötigen Sachen auf. Wenn die Familie früher vor dem Fernseher saß und sich einen Film angeschaut hat, habe ich lieber etwas anderes gemacht. Ich habe dann gesagt: Entweder es gibt ein Happy End oder nicht. Ich kann es nicht beeinflussen.

*

Als Jugendlicher war von Hagens strammer Sozialist. Doch mit dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei ändert sich das schlagartig. Im Januar 1969 versucht er, von Tschechien nach Österreich zu gelangen, doch er wird festgenommen und zurück in Greiz zu einem Jahr und neun Monaten Haft verurteilt. Er wird von der Bundesrepublik Deutschland freigekauft und als politischer Häftling anerkannt. Im August 1970 betritt er erstmals bundesdeutschen Boden. In Lübeck setzt er sein Medizinstudium fort. 1974 nimmt er eine Arbeit als Assistenzarzt in der Abteilung für Anästhesie und Notfallmedizin in Heidelberg auf, schreibt seine Doktorarbeit. Am 20. Juni 1975 heiratet er seine ehemalige Studienkollegin Cornelia von Hagens. Weil sie nicht in der Klinik "das Liebchen" genannt werden möchte, nimmt er ihren Namen an. In dieser Zeit wechselt von Hagens auch an das Institut für Anatomie.

Seit wann tragen Sie Ihren Hut?

Seit 1980. Das Anderssein hilft mir auch, anders zu denken. Zum Duschen nehme ich ihn aber ab.

Mit Ihrer ersten Frau haben Sie drei Kinder. Hatten die nie Probleme mit Ihrer Tätigkeit?

(lacht) Für die war das eigentlich ganz normal. Einmal hat aber eine Erzieherin aus dem Kindergarten ganz entsetzt angerufen, ob wir wirklich, wie unsere Kinder erzählten, Leichenteile auf dem Balkon hätten. Das aber waren alte, ausrangierte Kunststoffmodelle, mit denen ich meine Kinder mit dem Körperinneren vertraut machen wollte. Tatsächlich haben meine Kinder später auch Anerkennung für meine Tätigkeit bekommen, wenn sie zum Beispiel Plastinate mit in den Biologie-Unterricht genommen haben, um sie dort zu zeigen.

*

Noch immer gibt es das Institut für Plastination im Bosseldorn im Heidelberger Stadtteil Rohrbach. Im Mai 2005 kommen mehr als 750 Menschen dorthin, die sich nach ihrem Tod plastinieren lassen wollen. Hautnah können sie miterleben, wie die Leichen vorbereitet und präpariert werden. Und von Hagens präsentiert zu diesem Anlass seine neueste Errungenschaft: die Elefantenkuh Samba aus dem Neunkircher Zoo. "Ich stehe zu meiner Sensationslust", ruft von Hagens, als ihm ein Journalist Provokation vorwirft: "Sensationslust ist der Quell der Wissenschaft." 14 Jahre später hatten die Körperwelten-Ausstellungen weltweit schon mehr als 50 Millionen Besucher.

Wie viel Provokation und wie viel Aufklärung steckt in den Körperwelten?

Dem Zeitgeist geschuldet, lag der Anteil früher bei fünfzig zu fünfzig. Heute sind es nur noch zehn Prozent Provokation. Wenn ich noch das Sagen hätte und nicht meine Frau Angelina, wären es noch 30 Prozent (lacht). Es steht mir immer noch zu, das zu kommentieren. Ich mische mich aber nicht mehr ein.

Ein Schachspieler. Ein Basketballspieler. Ein Reiter auf einem Pferd. Muss man die Ganzkörperplastinate in solchen Posen zeigen?

Die ersten Plastinate waren ja rein zu Lehrzwecken. Doch bei unserer ersten Ausstellung in Japan gab es Beschwerden, dass sie so leblos aussehen und sich Besucher fürchten. Daher haben wir uns dazu entschlossen, sie ästhetischer zu gestalten und ihnen Leben einzuhauchen. Die alten anatomischen Meister haben anatomische Ganzkörper auch in natürlichen Posen dargestellt.

Mit Ihrer Ausstellung mussten Sie viel Kritik einstecken – von den Kirchen, von der Politik. Zudem gab es immer wieder Skandale. Die Universität Heidelberg zeigte Sie wegen Titelmissbrauchs an, weil Sie Ihren chinesischen Professorentitel nicht kenntlich gemacht haben. Es gab den Vorwurf der Schwarzarbeit und die Behauptung des "Spiegels", Sie hätten ihre Leichen nicht legal beschafft. Was hat Sie am meisten getroffen?

Die Vorwürfe haben mich persönlich nicht getroffen. Es war ja nichts dran. Wichtig ist, was ich daraus gemacht habe. Insofern habe ich mich über den Spiegel-Artikel am meisten gefreut. Er hat die Kontroverse über unsere Ausstellung gefördert.

Ihre Ausstellung im Alten Hallenbad in Heidelberg heißt "Anatomie des Glücks". Was bedeutet Glück für Sie?

So oft wie möglich das Glücksgefühl der assoziativen Verknüpfung zu erleben. Neue Erkenntnisse zu gewinnen, Aha-Erlebnisse zu haben. Wie damals bei der Erfindung der Plastination.

Womit beschäftigt sich ein Anatom und Plastinator in seiner Freizeit?

Ich interessiere mich sehr für Psychologie, war früher ein guter Hypnotiseur. Eines meiner Lieblingsbücher ist daher auch Thomas Manns "Mario und der Zauberer".

Und wie feiern Sie Ihren 75. Geburtstag?

Gar nicht.

Die Antwort kam schnell.

Ich feiere erst wieder zu meinem 80.

*

Unvermittelt steht Gunther von Hagens auf. "Nach einer Stunde muss ich mich bewegen." Er macht 30 Liegestützen, anschließend Kniebeugen. "Ich mache das auch im Zug, wenn ich von Guben nach Heidelberg fahre. Es ist mir egal, was die Leute denken."

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