Das Loch im Netz - Gewiss ist nur die Ungewissheit

Kießlings Phantomtor gegen Hoffenheim zeigt, dass die Einführung der Torlinientechnik im Profifußball längst überfällig ist

21.10.2013 UPDATE: 21.10.2013 06:00 Uhr 3 Minuten, 6 Sekunden
Schwer zu erkennen: Nach dem Kopfball von Stefan Kießling (ganz l.) flutscht das Leder durch ein Loch im Außennetz in das von Koen Casteels gehütete Hoffenheimer Tor. Foto: Imago
Von Joachim Klaehn

Sinsheim. Ein Spiel als skurriles Theaterstück - ein Spiel, das die gesamte Fußballszene in helle Aufregung versetzt - ein Spiel, das in die Bundesliga-Historie eingehen dürfte - und vor allem ein Spiel, dessen Folgen und Nachwirkungen zum jetzigen Zeitpunkt noch gar nicht abzusehen sind. Die 1:2 (0:1)-Niederlage der TSG 1899 Hoffenheim gegen Bayer Leverkusen vom späten Freitagabend hat ihren festen Platz im Kuriositätenkabinett dank Stefan Kießlings Phantomtor erhalten. Und es gilt augenzwinkernd festzuhalten, dass sich diese oft überdrehte Parallelwelt wiederholt mit den simpelsten Gesetzmäßigkeiten und dem Phänomen der menschlichen Fehlbarkeit konfrontiert sieht.

Tor oder nicht Tor, drin oder nicht drin - das ist die entscheidende Frage. "Vielleicht haben wir jetzt eine Jahrhundertchance im Fußball", sagte TSG-Trainer Markus Gisdol bei seinem ersten Besuch im Aktuellen Sportstudio des ZDF. Wer Gisdol kennt, der weiß, dass der 44-jährige Vollbluttrainer viel lieber über die Feinheiten der kickenden Zunft und über den eingeschlagenen Kurs bei 1899 gesprochen hätte. So aber musste Reformer Gisdol fast ausschließlich über die längst überfällige Einführung der Torlinientechnik und des Videobeweises reden.

Die unterhaltsame Partie zwischen "Hoffe" und Bayer wurde quasi zum Lehrbeispiel der Unzulänglichkeiten sowie deren fatalen Auswirkungen.

Szene eins: Andi Beck erobert den Ball an der Außenlinie, flankt in Manni-Kaltz-Manier, Firmino legt per Kopf für Volland auf und der drischt das Leder in die Maschen. Das 1:1 (36.)? Von wegen. Dem korrekten Treffer wurde die Anerkennung durch das Schiedsrichter-Gespann versagt, aber weder Firmino noch Volland standen im Abseits. Wie bereits im ersten Saisonspiel am 10. August gegen den 1. FC Nürnberg (2:2) wurde Kevin Volland ein reguläres Tor geklaut, als er mit seinem akrobatischen Heber (45.) das zwischenzeitliche 2:0 erzielt hatte. Der Ball war, mit bloßem Auge von der Tribüne aus sichtbar, deutlich hinter der ominösen Linie gelandet. "Hoffe" hätte also zwei Punkte mehr im Tableau.

Szene zwei: Nach Castros Ecke verlängert Kießling mit dem Kopf, der Ball fliegt am Pfosten vorbei ins Außennetz, doch von dort flutscht das Rund wie von Zauberhand geführt durch ein Loch im Seitennetz zum vermeintlichen 0:2 (70.) ins Tor. Hoffenheims hechtender Keeper Koen Casteels hatte in diesem Moment die schlechteste Perspektive und bekannte hinterher: "Ich habe den Ball erst im Netz gesehen. Als Torwart guckst du auf die Arme." Doch wie alle Spieler und 25 213 Augenzeugen in der Rhein-Neckar-Arena beschlichen Casteels merkwürdige Gefühle. Gegenüber David Abraham, so berichtete Casteels später in der Mixed Zone, habe Kießling sofort eingeräumt, dass es sich um ein (Nicht)-Tor handelte. Stefan Kießling bekannte es aber eben nicht gegenüber Schiedsrichter Dr. Felix Brych und verpasste somit eine historische Chance auf den Fairnesspreis.

Szene drei: Im Eins-gegen-Eins zwischen Firmino und Hilbert (82.) kommt der TSG-Brasilianer zu Fall. Der Bayer-Verteidiger hatte den Ball berührt, und wenn es überhaupt als Foul zu ahnden war, dann spielte sich der Zweikampf außerhalb des Strafraums ab. Eine Konzessionsentscheidung von Brych? Sei's drum: Firmino verschoss den Elfer gegen Leno und bestätigte damit die These, dass der Gefoulte selbst möglichst nicht den Strafstoß ausführen sollte.

Referee Brych, der über eine gute Reputation verfügt und nicht von ungefähr auf die Fifa-Schiedsrichter-Liste für die WM 2014 in Brasilien gesetzt wurde, sollte zum tragischen Hauptdarsteller eines Spektakels werden - zum einsamsten Mann in der mit Verzögerung brodelnden Rhein-Neckar-Arena! Vor surrenden Fernsehkameras meinte Felix, der Unglückliche nach dem Thriller: "Es hat mir keiner gesagt, dass der Ball nicht im Tor war. Ich hatte leichte Zweifel, aber die Reaktionen der Spieler waren eindeutig, es gab kein Kontra. Für mich ist das auch keine tolle Situation, ein Tor zu geben, das keins war." In der Bewertung ist es unterdessen unangemessen, ihn zum alleinigen "Sündenbock" abzustempeln. Denn auch seine Assistenten Stefan Lupp und Mark Borsch sowie der vierte Offizielle Markus Wingenbach hätten durchaus Eingriffsmöglichkeiten gehabt. Es bleibt zudem eine Merkwürdigkeit, dass sich die Hoffenheimer Akteure in ihr Schicksal ergaben und zunächst nicht energisch genug protestierten.

Diesen Job erledigte inzwischen TSG-Manager Alexander Rosen. In den Katakomben des Stadions hatte Rosen schon einen Protest gegen die Spielwertung angekündigt, der formell von Seiten des Kraichgauklubs am Samstagabend erfolgte. "Das Spielresultat wurde maßgeblich beeinflusst", sagte Rosen. Alle TSG-Protagonisten und "Hoffe"-Fans hoffen natürlich auf eine Wiederholung des Skandalspiels.

"Wir müssen an unseren Sport denken", mahnte Gisdol im Sportstudio und forderte Gleichbehandlung zum Fall zwischen dem FC Bayern und 1. FC Nürnberg vom April 1994 ein.

Gewiss ist nur die Ungewissheit. DFB-Vizepräsident Rainer Koch warf am Samstag die Fifa-Regel 5 in den Ring, wonach Tatsachenentscheidungen des Schiedsrichters nicht als Regelverstoß gelten würden. "Die Fifa hat hier entscheidend mitzureden, sie ist die oberste Regelhüterin", sagte Koch über ein kniffliges Entscheidungsgeflecht. "Hoffe" wird sich demnach in Geduld üben müssen, zumal mit einer Behandlung des Falles vor dem zuständigen Sportgericht erst nach dem DFB-Bundestag am 24./25. Oktober zu rechnen ist. Ergo: Das skurrile Theater um Kießlings Phantomtor geht weiter. Nicht auszudenken, wenn am Saisonende ausgerechnet der jüngste Fall aus Sinsheim für ein sportliches Wohl oder Wehe mitverantwortlich wäre ...

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