1899 Hoffenheim

Wenn Leidenschaft Leiden schafft

"Nagelsmänner" tanzen auf dem Vulkan - Bitteres 2:3 gegen Donezk

28.11.2018 UPDATE: 29.11.2018 06:00 Uhr 2 Minuten, 49 Sekunden

Voller Adrenalin: Hoffenheims ehrgeiziger Cheftrainer Julian Nagelsmann. Foto: APF

Von Joachim Klaehn

Sinsheim. Zum ersten Mal in ihrer relativ jungen Vereinsgeschichte spielt die TSG 1899 Hoffenheim auf allerhöchstem internationalen Niveau. Die Auftritte der "Nagelsmänner" sind mitreißend, packend, turbulent, dramatisch - und auch nichts für schwache Nerven. Am späten Dienstagabend sahen die 22.290 Besucher in der Rhein-Neckar-Arena eine Ballnacht mit unglaublicher Intensität und Emotionalität.

Das Duell zwischen Hoffe" und Schachtar Donezk glich einem Ritt auf der Rasierklinge. Beide Mannschaften suchten am vorletzten Gruppen-Spieltag der Champions League die Entscheidung - das 2:3 (2:2) für den Serienmeister aus der krisengeschüttelten Ukraine sollte sich aus TSG-Blickwinkel nach 97 Wahnsinns-Minuten zu einem Inferno der Gefühle ausweiten.

Hintergrund

Das wahrscheinliche Aus als Liga-Chance

Tief sitzt der Frust in Hoffenheim nach dem wahrscheinlichen Aus auf der internationalen Bühne. Auch im zweiten Anlauf, diesmal erfreulicherweise gleich in der Königsklasse, hat die TSG ihre Grenzen auf

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Das wahrscheinliche Aus als Liga-Chance

Tief sitzt der Frust in Hoffenheim nach dem wahrscheinlichen Aus auf der internationalen Bühne. Auch im zweiten Anlauf, diesmal erfreulicherweise gleich in der Königsklasse, hat die TSG ihre Grenzen auf ihrer Tour durch Europa aufgezeigt bekommen. "Wir treten an, um uns für die nächste Runde zu qualifizieren", hatte Sportdirektor Alexander Rosen ein verständliches Ziel für die Gruppenphase der Champions League ausgegeben. Dieser Wunsch wird, sollte es kein "Wunder von Manchester" und Ergebnishilfe aus Donezk geben, unerfüllt bleiben.

Ein Beinbruch ist das gleichwohl nicht für Baumann, Vogt und Co. Der Torwart verneinte - nach kurzer Bedenkzeit - am späten Dienstagabend im Stadionbauch jedenfalls die Frage der Berichterstatter, ob die Niederlage gegen die Ukrainer und das bevorstehende Aus in der Königsklasse negative Auswirkungen auf den Liga-Alltag haben könnte. Am Samstag im Abendspiel gegen Schalke soll nach zuvor vier Siegen in Serie und dem unnötigen 3:3-Remis nach 3:1-Führung in Berlin der Marsch nach oben weiter fortgesetzt werden. Im vergangenen Jahr stellte es sich gar als positiv heraus, dass die Aufsteiger in der Rückrunde nur noch auf einer Hochzeit getanzt haben. "Hoffe" ist nicht der FC Bayern oder Dortmund. Platz drei am Ende wäre, wir wagen diese Prognose, mit einer längeren Zwei- oder gar Dreifach-Belastung kaum möglich gewesen.

Mit Wiederaufnahme des Trainingsbetriebes nach der Winterpause und ohne die zusätzlichen Englischen Wochen ist für Nagelsmann eine ganz andere Trainingssteuerung möglich.

Zwar hat 1899 auch bereits spät noch Tore erzielen können. Doch auffällig ist dennoch, dass Nagelsmanns Schützlinge wiederholt Treffer in letzter Minute einstecken mussten. Liegt es alleine an der offensiven und stets auf drei Punkte ausgerichteten Marschroute ihres Coaches? Gerd Doll, ständiger Stadionbeobachter und ehemaliger Trainer, meinte schon vor dem Spiel gegen Donezk auf unsere Frage, ob es womöglich ein Fitnessproblem geben könne, gewohnt offen: "Das habe ich hier schon öfters festgestellt." Allerdings wies Doll auch darauf hin, dass sich die europäische Erfahrung der gesamten TSG-Mannschaft ("Wie viele haben denn schon international gespielt?") stark in Grenzen halte.

13 Mal beispielsweise ist Schachtar bereits schon in der Königsklasse dabei gewesen. Ein Vorsprung gegenüber Hoffenheim, der sich auch diesmal am Ende bemerkbar machte. (awi)

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Mit der ganzen Wucht brach der Frust aus dem jungen Fußballlehrer Julian Nagelsmann (31) heraus. Er wollte sich mit seinem begabten Kollektiv unbedingt für die K.o.-Phase der Königsklasse ab 12. Februar 2019 qualifizieren, doch nach der Heimniederlage gegen den Uefa-Cup-Gewinner von 2009 und dem gleichzeitigen 2:2 von Olympique Lyon gegen Manchester City haben die Kraichgauer keinen Zugriff mehr auf den lukrativen zweiten Platz.

Noch schlimmer: Hoffenheim muss am 12. Dezember beim haushohen Favoriten ManCity gewinnen, und Donezk eben gegen Lyon verlieren, um doch noch als Gruppendritter den Last-Minute-Einzug in die Europa League feiern zu dürfen.

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Nagelsmann fand schließlich bei der Uefa-Pressekonferenz ein Ventil für seinen emotionalen Haushalt, nachdem die Kardinalfrage mit leichten Nuancen an mehrere Spieler in der Mixed Zone und direkt an ihn selbst vor laufenden Kameras gestellt worden war: Hätte sich "Hoffe" in den letzten Minuten nicht mit einer Punkteteilung arrangieren sollen? Die Steilvorlage für das Nachhaken hatte Mittelfeldakteur Steven Zuber geliefert: "Normal hätte man am Ende vielleicht überlegen sollen, ob wir nicht das 2:2 nehmen. Doch uns zu bremsen, wäre der falsche Weg. Das ist einfach Hoffenheim - und unsere Leidenschaft um den Sieg."

Damit konfrontiert, setzte der Coach zu einem Redefluss an. "Diese Unentschieden - das geht mir voll auf den Sack. Weil ich halt gewinnen will. Ich will immer gewinnen, immer. Jedes Scheiß-Spiel will ich gewinnen - sogar im Darts gegen meinen Videoanalysten. Ich werde auch gegen Manchester City gewinnen wollen, das verspreche ich", entgegnete er den Medienvertretern, so dass auch Dolmetscher Aleksej Maksymchuk Schwerstmaloche zu verrichten hatte.

Nackenschlag in der Nachspielzeit: Durch den Treffer von Taison (ganz links) - Bicakcic, Baumann und Kramaric können nicht mehr eingreifen - wird das 2:3 gegen Donezk und das vorzeitige Champions-League-Aus besiegelt. Foto: APF

Nagelsmann wählte nach dem brutalen Nackenschlag des Schachtar-Brasilianers Taison (90.+2) - zuvor hatten Ismaily (14.) und wiederum Taison (15.) für Donezk und Kramaric (17.) sowie Zuber (40.) für Hoffenheim getroffen - die Strategie von Gegenfragen. Wie solle denn die Alternative aussehen? Wenn seine Mannschaft ein Unentschieden erreicht hätte, wäre ihm mutmaßlich die Frage so gestellt worden: "Herr Nagelsmann - 2:2. Hätten Sie nicht auf Sieg spielen müssen, um bessere Chancen aufs Weiterkommen zu haben?"

Nein, Nagelsmann wollte partout aus seinem Herzen keine Mördergrube machen. Er wollte alles, sein Team wollte nach der Gelb-Roten Karte für Stürmer Adam Szalai (59.) in Unterzahl alles. Ein Remis halten? Havard Nordveit musste trotz aller Tristesse im Stadionbauch leicht grinsen: "Das ist nicht unsere Art und Weise. Wir spielen offensiv, wir wollen gewinnen. Wir können jetzt nicht nach Hause gehen und weinen. Das Erreichen der Europa League ist immer noch möglich. Du hast doch nichts zu verlieren in Manchester."

Hintergrund

Stimmen aus Sinsheim

Julian Nagelsmann (TSG-Trainer): "Natürlich hätte ich lieber 2:2 gespielt als 2:3. Es wäre Bullshit, wenn ich sagen würde, ich habe lieber verloren. Es ist aber ein völliger Trugschluss zu sagen, ich sichere das

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Stimmen aus Sinsheim

Julian Nagelsmann (TSG-Trainer): "Natürlich hätte ich lieber 2:2 gespielt als 2:3. Es wäre Bullshit, wenn ich sagen würde, ich habe lieber verloren. Es ist aber ein völliger Trugschluss zu sagen, ich sichere das 2:2 und und stelle mich mit zehn Mann hinten rein."

Paulo Fonseca (Trainer Schachtar Donezk): "Es war ein großartiges Spektakel. Und das ist es doch, was die Zuschauer sehen wollen."

Kevin Vogt (TSG-Kapitän): "Es ist sehr bitter, dass wir diesen dritten Gegentreffer fressen. Da können wir uns ein bisschen cleverer anstellen. Trotzdem Kompliment an die Mannschaft."

Pavel Kaderabek (TSG-Verteidiger): "Wir haben keines der fünf Spiele gewonnen. Das ist einfach schlecht! Sicher wäre es vielleicht cleverer gewesen, auf ein Unentschieden zu gehen."

Steven Zuber (1899-Torschütze zum 2:2): "Die Champions League ist mit der Europa League nicht vergleichbar. Unsere schwachen Phasen haben die anderen Gegner eiskalt ausgenutzt."

Nico Schulz (TSG-Powertyp): "Ich ärgere mich, weil ich das leere Tor nicht treffe. Im Endeffekt haben wir uns für den hohen Aufwand nicht belohnt - mal wieder. Ist leider so!"

Ermin Bicakcic (TSG-Innenverteidiger beim Hinausgehen): "Was soll ich denn erzählen? Fucking Spiel."

Christoph Nestor (TSG-Fan aus Dossenheim, Dauerkarte im S-Block seit 2008): "In der Nacht gemischte Gefühle über das mitreißende Spiel und die blöden Gegentore, morgens Genugtuung über das neue hohe Leistungsniveau unserer Mannschaft. Was die drei Ausbildungsjahre von Julian Nagelsmann an Engagement, Spielsystemen, Konzentrationsfähigkeit und Spielwitz geschaffen haben, wird bleiben. Die Champions-League-Heimspiele waren jenseits der Ergebnisse drei Leckerbissen, auch das Spiel in Lyon. Wir würden aber auch mal eine Saison ohne Europa von Heidelberg nach Sinsheim pilgern ... Warum fußballaffine Kurpfälzer(innen) immer noch nicht für 17 ausverkaufte Spiele sorgen, ist mir ein Rätsel. Alla hopp!" (jog/awi)

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Stimmt. Allerdings muss schleunigst ein Lerneffekt in dieser gar so wankelmütigen Truppe einsetzen, bei der das Pendel zwischen Abwehrpatzern und Chancenwucher beinahe ohne Unterlass ausschlägt. Das ist auch dem "Wikinger" Nordtveit bewusst: "Es ist Pech, wenn wir nicht da sind - es reichen auf diesem Level zehn Sekunden und du kriegst sofort ein Gegentor."

Fatale Aussetzer hatte "Hoffe" in den bislang fünf Champions-League-Partien dieser Saison (2:2, 1:2, 3:3, 2:2, 2:3) zur Genüge - ohne eine Bastion vor Keeper Baumann wird es am Mittwoch in einer Woche im Etihad Stadium von Manchester kaum reichen. Das Erlebnis in Einklang mit dem Ergebnis zu bringen, wird die entscheidende Herausforderung zum "Kehraus" der Gruppenphase sein. Weiteres Handicap: Regisseur Kerem Demirbay (3. Gelbe Karte) und Szalai (Ampelkarte) stehen Nagelsmann im Nordwesten Englands nicht zur Verfügung.

Eines ist vor der Bewährungsprobe bei den "Citizens" und dem gleichzeitigen Fernduell mit Schachtar freilich sicher: Die Nagelsmann-Schützlinge können und wollen an ihrem Sturm und Drang nichts ändern, der Tanz auf dem Vulkan geht weiter. Es passt schlichtweg zur Philosophie des innovativen Klubs, zur Binnenstruktur des aktuellen Gefüges - und zum Wesen und der Erfolgsbesessenheit des TSG-Sportchefs, der Leidenschaft bis in die letzte Faser seines Körpers vorlebt, auch wenn sie im konkreten Einzelfall wie gegen Donezk Leiden schafft.

Kurzum: Der emotionsgeladene Abend des 27. November war ein Fest des Fußballs für jeden Zuschauer jedweder Couleur, auch wenn es in Sinsheim das vorerst letzte Mal in Europas Vorzeige-Liga gewesen sein könnte ...

(Der Kommentar wurde vom Verfasser bearbeitet.)
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